Hamburg. Der starke Thalia-Abend „Patentöchter“ bringt ein Kapitel bundesdeutscher Geschichte mit Bezug zur Hansestadt auf die Bühne.
Zwei Frauen, beide unschuldig. Ein Leben lang miteinander verbunden, hilflos verflochten durch eine unfassbare Tat. Die eine als Tochter des Opfers, die andere als Schwester einer Täterin. „Zwei Pole einer Geschichte, die die Bundesrepublik aufs Äußerste gefordert hatte.“ Zwei „Patentöchter“. Nach dem gleichnamigen und höchst beeindruckenden Dialog-Buch, das Julia Albrecht, kleine Schwester der RAF-Terroristin Susanne Albrecht, und Corinna Ponto, Tochter des von der RAF ermordeten Jürgen Ponto, vor einigen Jahren gemeinsam herausgegeben haben, hat der Regisseur Gernot Grünewald auf der Thalia-Studiobühne in der Gaußstraße einen bemerkenswerten Theaterabend gebaut, der mit dem Begriff „Dokumentartheater“ nur sehr unzureichend beschrieben wäre.
Grünewald stellt die Frage nach persönlicher und kollektiver Erinnerung. Durch die ungewollt, aber nachhaltig beteiligten Frauen bringt er sowohl das Verbrechen selbst als auch dessen Folgen (und zwar: für die Gesellschaft sowie für den Einzelnen) auf die Bühne und beantwortet schon durch die Entscheidung zur Inszenierung eine Frage, die Julia Albrecht im Buch aufgeworfen hatte: „Kann man eine terroristische Tat als ein privat zu bearbeitendes Problem behandeln oder soll man es öffentlich aufarbeiten?“ Ein Theaterabend entscheidet sich fraglos für Letzteres. Nicht das verkehrteste Vorhaben, in einer Zeit, in der „rechtes“ und „linkes“ Lagerdenken eine neue Qualität erreicht. Die Vergangenheit ist stets nur vermeintlich vorbei.
Gespaltene Persönlichkeiten
Es ist der erste Tag der Sommerferien 1977 und Julia Albrecht 13 Jahre alt, als Susanne Albrecht den Jugendfreund ihres Vaters, Jürgen Ponto, in seinem Haus in Oberursel besucht. Ihre Begleiter: die RAF-Mitglieder Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar, die den Vorstandssprecher der Dresdner Bank in seinem Wohnzimmer erschießen. Susanne Albrechts Tat ermöglicht diesen Mord nicht nur, sie ist zudem ein schwerer Verrat: Die Familien Ponto und Albrecht sind einander eng verbunden, ihre Töchter jeweils die Patenkinder der Väter.
30 Jahre nachdem die Opferfamilie daraufhin ihre Beziehung zur Täterfamilie abbricht, sucht Julia Albrecht den Kontakt. Die Begegnung mit Corinna Ponto – zunächst schriftlich, schließlich persönlich – wird zum Lehrstück über den Unterschied zwischen Versöhnung und Vergebung. Und sie rückt die Perspektiven der Aufarbeitung in den Fokus.
Jeweils drei Schauspielerinnen spielen zeitgleich die Figuren Corinna (Sandra Flubacher, Maria Magdalena Wardzinska und alternierend Lina Bohn/Lina Ziebarth) und Julia (Oda Thormeyer, Alicia Aumüller und Julia Menk/Mila Nitzel). Gespaltene Persönlichkeiten, die verzweifelt versuchen, die Hoheit über Erinnerungen und Emotionen zu bewahren. Balancierend zwischen der Abscheu über die Tat und der eigenen Verbundenheit mit der Täter-Schwester. Und noch eine weitere Ebene fügt Grünewald dieser Aufspaltung hinzu: Eine Videoleinwand über der Bühne zeigt die Darstellerinnen in Großaufnahme, Stimmen und Gesprächsfetzen werden in Loops wiederholt. Ein starkes, ungemein stimmiges Bild für die Zerrissenheit, das regelrechte Außer-sich-Sein und zugleich den erbarmungslosen Blick der Öffentlichkeit.
Kein sicheres Zuhause
Michael Köpke hat den Frauen eine Art Doppelhaus auf die Bühne gebaut, in dem sich das vielstimmige Grauen und die „nicht aufhören wollende Traumatisierung“ in biederer 70er-Jahre-Ausstattung schlüssig spiegelt. Sich in dem Geschehenen einzurichten funktioniert hier auch im übertragenen Sinne nicht. Das Zuhause als geschützter Raum der Sicherheit oder Privatheit ist auf beiden Seiten der Geschichte unwiederbringlich zerstört, die extreme innere Unruhe der Beteiligten zeigt sich auch im Verwüsten der äußeren (Wohn-)Ordnung. „Mord ist immer auch Raubmord“, sagt Corinna Ponto an einer Stelle: „Ein Teil deiner Geschichte, deiner Kraft wird dir für immer gestohlen.“
Gleichzeitig ist es ein Stück Hamburger Historie, das hier verhandelt wird, und Gernot Grünewald und seine Dramaturgin Susanne Meister betonen diese lokale Verbindung zur bundesrepublikanischen Geschichte durchaus. Der beabsichtigte Effekt stellt sich umgehend ein: Die Ereignisse der Vergangenheit rücken näher, sie haben zu tun mit dieser Stadt, mit diesen Zuschauern.
Ein Stück Hamburger Historie
Jürgen Ponto war „behütet in Alsternähe“ aufgewachsen, die Männer hatten sich als Studenten der Rechtswissenschaft im Nachkriegs-Hamburg kennengelernt. Familie Albrecht lebte in den Elbvororten, als der Mord geschah, an der Waitzstraße passierte Julia Albrecht jahrelang das Fahndungsplakat ihrer Schwester. „Sechs Jahre Hamburg, sechs Jahre als Schwester der Schwester.“ Irgendwann begannen die Eltern, die Plakat-Susanne zu grüßen. Ein Versuch, der eigenen Sprachlosigkeit etwas entgegenzusetzen.
Abgeschlossen – auch das zeigt dieser aufwühlende, mit reichlich Applaus bedachte Abend – ist das Kapitel RAF nicht. Zu viele Fragen bleiben offen. Auch an die schweigende Täterin.
„Patentöchter“, wieder am 9.10. und 7.11., jeweils 20.00, Thalia Gaußstraße, Gaußstraße 190, Karten zu 22,- unter T. 32 81 44 44