Hamburg. Kein Stierkampf, kein Flamenco: Die Opernloft-Chefinnen erzählen Georges Bizets Oper als neuartige quirlige Kompaktfassung.

Die Temperaturen am Premierenabend sind gewohnt mediterran. Aber das war’s dann auch. Ansonsten kommt einem diese Carmengar nicht spanisch vor. Kein Stierkampf, kein Flamenco und keine Rosen im Haar. Sondern Klassenzimmer, Schulkantine und jede Menge Smartphones.

Das Hamburger Opernloft – mit der aktuellen Produktion noch einmal im Ernst Deutsch Theater zu Gast – verlegt Georges Bizets Liebes- und Eifersuchtsdrama in die Gegenwart, ins Ambiente einer US-amerikanischen Highschool. Dafür hat Dramaturgin Susann Oberacker das Stück auf 90 Minuten gerafft und die Handlung umgeschrieben. José ist kein Soldat, sondern Musikreferendar, Micaëla und Carmen sind rivalisierende Schülerinnen, die eine brav, die andere eine Bitch.

Carmen macht die Kerle wuschig

Inken Rahardt nutzt diese Vorlage mit ihrem jungen Ensemble für eine quirlige Inszenierung, die zwar nicht jede Nuance ausleuchtet, aber die Geschichte lebendig und temporeich erzählt. Auf drei Ebenen einer Drehbühne (Ausstattung: Claudia Weinhart) porträtiert die Regisseurin alle Personen – auch die chorischen Nebenrollen - mit viel Liebe zum Detail.

Ihre Pointen sind gut getimt und in den zwei berühmtesten Arien zu Höhepunkten verdichtet: Wenn Escamillo im „Toreador“ als brünftiger Football-Protz der Schulmannschaft durch die Gegend schnaubt, und wenn Carmen als Cheerleaderin in der (in den zweiten Teil versetzten) „Habanera“ alle Kerle mit ihren Puscheln wuschig macht.

Fremdheit gegenüber Stammbesuchern

Das wird ausgiebig geknipst, gefilmt, gepostet und geliked. Und die nächsten Hashtags – zusammen mit der Übersetzung der Texte auf die Seitenwände projiziert – sind auch nicht weit: #sportistvollmeinding #läuftbeimir.

Die Allgegenwart der sogenannten sozialen Medien und ihrer Verbreitungs- und Bewertungsmuster sind das Leitmotiv des Abends. Damit rückt die Handlung ins Hier und Jetzt und reduziert die Distanz zu jungen Hörern, schafft aber zugleich auch eine Fremdheit gegenüber manchen Stammbesuchern des Theaters, deren Generation sich bei Snapchat, Twitter und Co. eben nicht zu Hause fühlt.

Garderoben-Sex mit José

Um ihre Linie durchzuziehen, biegen Inken Rahardt und Susann Oberacker die Story an manchen Stellen auch mal gewaltsam in die gewünschte Richtung. Weshalb Carmen ausgerechnet nach einem harmlosen Selfie-Battle mit Micaëla plötzlich in einem Shitstorm ertrinkt, erschließt sich nicht ganz – da sie doch vorher schon von ihren Mitschülern beim Garderoben-Sex mit José ertappt wurde. #lehrerschülerinerwischt.

Derartige Glaubwürdigkeitslücken überspringen die Darsteller mit ihrer Spielfreude und musikalischen Energie. Stimmliches Kraftzentrum ist die südkoreanische Mezzosopranistin Soomi Hong als starke Carmen; mit ihrem dunklen Timbre verströmt sie genau jene selbstbewusste, mitunter auch leicht bedrohliche Sinnlichkeit, die ihr das Stück und die Inszenierung zuschreiben. Ähnlich überzeugend verkörpert Stepan Karelin den testosterondampfenden Quarterback Escamillo.

Mauerblümelnde Micaëla

Dagegen nimmt Richard Neugebauer die Herausforderungen in der Partie des José zwar mutig an und bewältigt sie größtenteils, stößt dabei aber spürbar an seine Grenzen, während Aline Lettow als mauerblümelnde Micaëla eine Spur zu blass bleibt.

Dass die unterschiedlichen Sängerpersönlichkeiten und der semiprofessionell besetzte Chor auch ohne ­Dirigenten zu einem stimmigen Ganzen zusammenwachsen, ist nicht zuletzt den drei vorzüglichen Instrumentalisten zu verdanken: Der Klarinettist und Saxofonist Robert Löcken und die ­Geigerin Beatriz Pavlicenco bilden gemeinsam mit der musikalischen Leiterin Makiko Eguchi am Flügel ein stabiles Gerüst, das trotz der drastisch reduzierten Besetzung – die kammermusikalische Einrichtung kommt von Markus Bruker – einige herrliche Farbreize setzt.

Ein kurzweiliger Opernabend mit einer klaren Botschaft: Finger weg vom Selfie-Stick!

„Carmen“ bis 6.7., Ernst Deutsch Theater (U Mundsburg), Friedrich-Schütter-Platz, Karten zu 22,- bis 42,- unter T. 22 70 14 20; www.ernst-deutsch-theater.de