Hamburg. Tobias Ginsburg schleuste sich bei den Reichsbürgern ein. Danach schrieb er ein Buch über deren Irrwitz und Verschwörungstheorien.

Der „Spinner“ ist, so hat das die deutsche Sprache verabredet, ein Außenseiter, ein Narr, ein Sonderling. Durch den Spinner erst werden die Normalen normal. Man hätte Tobias Ginsburg, dem 1986 in Hamburg geborenen Theatermacher, gewünscht, er wäre auf seinem katastrophalen, furchterregenden, todesmutigen, wahnsinnigen, absurden und irrwitzigen Bildungstrip zu den Reichsbürgern ein paar mehr normalen Menschen begegnet.

Er hätte in diesem Fall Beistand gehabt, einen wenn auch nur heimlichen sicheren Hafen der Vernunft im Meer der perversen Fantasie. Andererseits: Um ein Gespür für die hinter den Spinnereien dämmernde Gefahr zu bekommen, muss man nackt unter Wölfen sein. Das Reportagebüchlein, das weitaus mehr Furor-Betrachtung als Analyse sein will, trägt den Titel „Die Reise ins Reich. Unter Reichsbürgern“ und erscheint in der Eulenspiegel-Verlagsgruppe in Berlin. Das passt – fast. Die Narren bei den Reichsbürgern verdienen keine Sympathie.

Radikale Realitätsverweigerung

Und dennoch versagt Ginsburg, der sich unter dem Pseudonym Tobias Materus erst digital, dann physisch an die Reichsbürger heranmacht, auf der rein persönlichen Ebene jenen diese Sympathie nicht immer. Eine Art Stockholm-Syndrom attestiert eine Bekannte dem Autor, der mit den Reichsbürgern säuft, diskutiert und dummes Zeug erzählt. Ganz so, wie es sich gehört für den Undercover-Journalisten, als der der im Übrigen sehr wortmächtige und messerscharf formulierende Autor hier auftritt; ein Zitat von Günter Wallraff („Ganz unten“), dem Großvater des journalistischen Einschleusens, ziert den Bucheinband. Und wie nennt Wallraff seinen jungen Epigonen? Natürlich einen „Aufklärer“.

Das ist Ginsburg, der sich ein halbes Jahr in den Refugien der beeindruckend radikalen Realitätsverweigerung herumtrieb, allerdings nur bedingt – wenn man mal in Rechnung stellt, dass etwa die Nachrichtenmagazine im Fernsehen all das bereits zusammengetragen haben, was Ginsburg hier auffährt. Nur eben längst nicht so unterhaltsam.

Bundesrepublik ist für sie eine GmbH

Also, sollte jemand trotz Xavier Naidoo und des fränkischen Polizistenmords von 2016 nicht wissen, wer die Reichsbürger sind? Die Reichsbürger sind Leute, die nicht glauben, dass das Deutsche Reich je geendet hat, ob sie nun das Deutsche Kaiserreich meinen oder das Nazi-Reich in den Grenzen von 1937. Die Bundesrepublik ist für sie eine GmbH und außerdem immer noch besetzt. Für die Reichsbürger hat die Bundesrepublik keine Hoheitsgewalt. Das heißt: Die Gegnerschaft zu ihr ist total.

Und in einem Wort, dass Reichsbürger, von denen es laut Verfassungsschutz in Deutschland mehr als 10.000 gibt, Neurotiker allerschwersten Kalibers sind. Oder, und darum geht es dem übrigens jüdisch gläubigen Autor Ginsburg, neonazistische Gefährder. „In gewisser Weise“, schreibt Ginsburg, „ist Reichsideologie nur der gute, alte Nazidreck, der es qua Verschwörungstheorie in andere Milieus geschafft hat.“

Wahre Paralleluniversen

Weil Verschwörungstheorien, die zu allen Zeiten ein prima Mittel des Eskapismus waren, so gut gedeihen, wenn die Welt im Umbruch ist, werden Alternativgesellschaften wie die der Reichsbürger zu wahren Paralleluniversen. Aber in ihnen ist es eben oft gar nicht so trüb und sumpfig, wie man meinen möchte, denn die „anderen Milieus“, das sind Konservative und Akademiker, Gutsituierte und Etablierte. Da ist etwa der ehemalige Grüne, der mit seinem zehnjährigen Sohn Info-Veranstaltungen abhält, da sind die bürgerlichen Esoteriker, Ex-Journalisten und Politiker, da sind die Gurus und Prediger der Szene und die Visionäre, die ein neues Deutschland von Russlands Gnaden in ostpreußischen Enklaven aufbauen wollen.

Tobias Ginsburg:
„Die Reise ins
Reich. Unter
Reichsbürgern“.
Verlag Das neue
Berlin. 272 S.,
17,99 Euro
Tobias Ginsburg: „Die Reise ins Reich. Unter Reichsbürgern“. Verlag Das neue Berlin. 272 S., 17,99 Euro © Das Neue Berlin

Den paradoxen Kern der Bewegung freizulegen fällt Ginsburg nicht schwer. Es ist immer noch die jüdische Weltverschwörung, die das schöne Deutschland am Boden hält; aber „Nazis, das sind immer die anderen“, benennt Ginsburg formelhaft die wahlweise geschickte, tolldreiste oder ignorante Inszenierung der Reichsbürger. Kann man ein Nazi sein, ohne es zu wissen? Das ist die Frage, die sich der Autor zunehmend verzweifelt ob des krude zusammengeschusterten Weltbilds stellt. Nein, Nazis wollen sie nicht sein, und Hitler war natürlich ein Agent der Alliierten, der das herrliche Germanenland für immer desavouieren sollte.

So lachhaft derlei ist und so pointiert die Entlarvungsarbeit Ginsburgs, bleibt am Ende hinsichtlich der Unoriginalität, Beschränktheit und Borniertheit, die sich besonders im altbekannten Antisemitismus äußert, nur die Erschöpfung. Nicht nur bei Ginsburg, sondern auch beim Leser.

Ganz schön traurig das alles.