Hamburg. Im Literaturhaus stellte Johann Scheerer sein Buch “Wir sind dann wohl die Angehörigen“ vor. Auch seine Eltern saßen im Publikum.

Einfach ein paar Stühle mehr reinstellen? Im Literaturhaus? Eine Geht-so-Idee. Außer, man will noch mehr Sardinenbüchsenatmosphäre schaffen. Andererseits ist der als Veranstaltungsraum verhältnismäßig kleine Hauptsaal der historischen Stadtvilla prima für die Bewirtschaftung aktueller Literatur-Hypes: Verknappung macht den Aufmerksamkeitsmeister.

Johann Scheerer ist eigentlich Musikproduzent, hat aber zuletzt vor allem mit seinem Buchdebüt „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ (Piper, 20 Euro) das Interesse auf sich gezogen. So sehr, dass der nun im Literaturhaus stattgefundenen ersten Lesung im Mai eine zweite folgen wird. Auch sie ist längst ausverkauft. Scheerer wäre wohl einer der wenigen, der im Zweifel für eine Veranstaltung nur mit Stehplätzen votierte. Eine popkulturelle Anmutung hat sein Thema jedoch keineswegs oder jedenfalls nicht vordringlich.

 Johann Scheerer (Podium, r), Sohn des Hamburger Multimillionärs Jan Philipp Reemtsma, liest bei der Vorstellung seines neuen Buches im Literaturhaus Hamburg
Johann Scheerer (Podium, r), Sohn des Hamburger Multimillionärs Jan Philipp Reemtsma, liest bei der Vorstellung seines neuen Buches im Literaturhaus Hamburg © dpa | Christian Charisius

33 Tage war er praktisch vaterlos

Scheerer, Jahrgang 1982, schreibt in „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ von den 33 Tagen des Jahres 1996, als er praktisch vaterlos war. Der Hamburger Philologe und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma wurde damals Opfer einer Entführung und eine Person der Zeitgeschichte. Ersteres war ein traumatisches Erlebnis für den Heranwachsenden. Letzteres ist ein fortdauernder Moment der Irritation für den erwachsenen Scheerer und die Menschen, mit denen er es später zu tun bekam. Als Sohn ist Scheerer nämlich, obwohl er den Namen seiner Mutter trägt, immer mit dem Entführungsfall Reemtsma verbunden. Mit seinem Buch, erklärte er dem Moderator des Abends, dem Journalisten Martin ­Doerry, und dem Publikum, habe er seine persönliche Lebensgeschichte für sich selbst „entmystifizieren wollen“.

Man hätte, als Scheerer dies sagte, gerne in Richtung seiner Eltern geschaut, die beide der ersten Hamburg-Lesung ihres Sohnes beiwohnten. Scheerers Erinnerungsbuch ist ein sehr persönlicher, bisweilen anrührender, auch spannender (und bemerkenswert sicher geschriebener) Bericht, der die Perspektive des Pubertierenden mit der des Erwachsenen mischt. Aber es stellt auch eine familiäre Entblößung dar: Der nachträgliche Blick auf das Trauma als öffentliche Manifestierung dessen, was Vater, Mutter und Sohn, für immer von familiären Normalbiografien unterscheidet.

Es ging im Jahr 1996 um Leben und Tod

Und deswegen versuchte man also, ganz genau zu erkunden, wie oft Scheerer während seines Vortrags zu den Eltern schaute. Vielleicht geschah das tatsächlich nur die beiden Male, die man registrierte; im ersten Fall ging es um die Popgruppe Die Ärzte und wie es ausgerechnet der Vater war, der seinem Sohn den Anstoß gab, auch durch die Wahl der Lieblingsband gegen die Eltern zu rebellieren. Das sei „ein bisschen doof“ gewesen, gestand Johann Scheerer und sorgte damit für Erheiterung im Publikum, insbesondere am Familientisch.

Scheerer, heute selbst Familien­vater, ist ein selbstbewusster Mann; die souveräne Erzählerstimme aus dem Buch, der die komischen Aspekte des Wahnsinns, der sich um sie herum abspielt, nicht entgehen, war auch im Literaturhaus zu hören. Scheerer beharrte auf Nachfrage auf die Verlässlichkeit seines Gedächtnisses, „viele Empfindungen und Gefühle erinnere ich sehr genau“.

Das Publikum lauscht gebannt

Und er verwies auch angesichts der erstaunlichen Tatsache, dass er, der sich von der Lesesucht seines anerkannt klugen Vaters absetzen musste, nun durch die Niederschrift eines eigenen und erfolgreichen Buches in die Familientradition zurückgekehrt ist, auf den Humor, der in seiner Familie herrscht.

Man darf sich den Humor bei Reemtsmas wohl unbedingt als einen ironischen vorstellen. An der Entführung wiederum, die nicht nur den Entführten, sondern auch die verlassen Zurückgebliebenen zu Opfern machte, war zunächst einmal gar nichts Ironisches.

Er habe, sagte Scheerer, sich immer wieder vor Augen geführt, dass sein Vater tatsächlich tot sein könne.

Es ging im Jahr 1996 um Leben und Tod, um das Zurandekommen mit dem Ungeheuerlichen, und obwohl das glückliche Ende bekannt und durch die Anwesenheit aller Familienmitglieder an diesem Abend verbrieft war, lauschte das Publikum gebannt der in so vielerlei Hinsicht packenden Geschichte, die Scheerer zu erzählen hat. Gekommen waren sie jedenfalls alle: die Anwälte mit Bücherspleen, die Medienunternehmer, Sozialwissenschaftler und Kulturbetriebler, die tätowierten Rocker und die nicht-tätowierten Literaturhaus-Stammgäste.