Hamburg . Johann Scheerer, Sohn von Jan Philipp Reemtsma, erzählt in einem Buch, wie er die Tage der Angst erlebte.
Stellt man sich die Erinnerung als einen Ort vor, dann als einen mit vielen Zugängen. Die einen sind geöffnet, die anderen verschlossen. Bei schrecklichen, einschneidenden Erfahrungen bleiben die Zugänge oft groß wie Scheunentore. Traumata verlassen einen nicht.
Als der Schüler Johann Scheerer am 25. März 1996 von seiner Mutter geweckt wurde, brach ein herrlicher Frühlingstag an. Ann Kathrin Scheerer sagte zu ihrem Sohn, dass sie beide jetzt ein Abenteuer zu bestehen hätten: „Jan Philipp ist entführt worden. Die Entführer wollen 20 Millionen D-Mark. Die Polizei hat einen Krisenstab eingerichtet. Christian Schneider ist auf dem Weg hierher. Ich weiß ganz sicher, dass es gut ausgehen wird, aber bis dahin wird es schwer für uns werden.“
Seitdem ist kein Vogelzwitschern mehr unschuldig für Johann Scheerer. Wenn der Frühling sich ankündigt, setzt die Erinnerung ein, immer, jedes Mal. Die Erinnerung an die 33 Tage im Jahr 1996, als Scheerer 13 Jahre alt war und sein Vater Jan Philipp Reemtsma in der Hand von Entführern. Der Fall des Hamburger Philologen und Sozialforschers schrieb Kriminalgeschichte. Man kennt die Zahlen und Fakten, findet sie leicht im Internet: Gegen 20.20 Uhr wurde Reemtsma in Blankenese von seinen Entführern überwältigt. Die hinterlegte Lösegeldforderung – 20 Millionen – wurde mit einer beigelegten Handgranate untermauert. Reemtsma wurde im Keller eines Garlstedter Hauses gefangen gehalten und erst am 26. April, nach mehreren gescheiterten Geldübergaben, freigelassen. Am Ende hatte seine Frau an der Polizei vorbei die Forderungen der Erpresser erfüllt.
Heute ist der 35-jährige Scheerer selbst Familienvater
Reemtsmas Sohn Johann Scheerer hat nun, 22 Jahre nach den dramatischen Ereignissen, ein Buch geschrieben: „Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Geschichte einer Entführung“. Es ist ganz und gar bemerkenswert geworden; ein Zeugnis der damaligen Hilflosigkeit, die nun in einen souveränen Erzähltext übergeführt wurde. Durch Einfühlung in den Heranwachsenden, der Scheerer war, und durch Vergegenwärtigung der fortwährend existierenden „schwarzen Loches“, wie Scheerer den Abstand zwischen seiner Familie und der Welt nennt, den die Entführung in seine Biografie schlug.
Scheerers Buch beschreibt mit großer Genauigkeit die Geschehnisse im Hause Scheerer/Reemtsma – es war über die längste Zeit der Entführung gleichzeitig eine Außenstation der Polizei – und rekapituliert die zwischen äußerster Nervenanspannung und lähmendem Aus-der-Zeit-Gefallensein wechselnde Gefühlswelt des Jugendlichen, der fast nicht mehr zur Schule ging. Das Buch ist damit das Komplementärstück zu Jan Philipp Reemtsmas eigener, 1997 erschienener Trauma-Verarbeitung „Im Keller“. Der Intellektuelle Reemtsma näherte sich dort dem Stoff, der ihn ja selbst wie keinen anderen betraf, vor allem auf analytische Weise.
„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ ist ein ebenso kluges Buch, aber es gibt die Distanz auf, die durch die Rationalität des Betrachters entsteht.
Während die Öffentlichkeit von der Entführung des Jan Philipp Reemtsma erst im Nachhinein erfuhr, ist außer seiner Mutter niemand derart involviert wie Johann Scheerer. Obwohl auch vor ihm, dem 13-Jährigen, manches geheim gehalten wird. Trotzdem erfährt auch er und mit ihm noch einmal der Leser von den Fürchterlichkeiten, die sich bei der Überwältigung Reemtsmas abspielten und im Keller, wo man dem Entführten die Verstümmelung androhte. Mit Scheerer liest man die Briefe des Vaters aus der Gefangenschaft, sie sind berührende Versuche eines Mannes, seiner Familie nah zu sein, während Ungeheuerliches geschieht.
Zärtlicher Text über eine Vater-Sohn-Beziehung
Wie überhaupt „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ immer wieder auch ein zärtlicher Text über eine Vater-Sohn-Beziehung ist. Der bekannte deutsche Intellektuelle ist aus Sohnessicht zwar auch manchmal ein „penetrant schlauer Vater“, er ist aber auch derjenige, der ihn mit seiner neuen Lieblingsgruppe Die Ärzte bekannt macht. Andererseits ist Adoleszenz auch eine Frage der Distanz. „Ich hasste ihn dafür, mir den Weg in die Revolution gezeigt zu haben. Es demütigte mich“, schreibt Scheerer über die väterliche popmusikalische Hinführung. Es muss leicht und schwer gewesen sein, der Sohn dieses Mannes zu sein, aber wenn die Anekdoten und Berichte Scheerers eines tun, dann ist das vor allem: ein höchst sympathisches Bild des Millionenerben Reemtsma zu zeichnen, der einmal mehr als Botschafter der Geisteswissenschaft erscheint (und nicht der des Geldes).
Musiker und Chef des Aufnahmestudios Cloudshill
Heute ist der 35-jährige Scheerer selbst Familienvater und außerdem Musiker und Chef des Aufnahmestudios Cloudshill Recordings in Rothenburgsort. Seinem Vater hat er, wie er in einem Interview sagte, erst von seinem Buch erzählt, als dieses schon fertig war. Er habe Angst gehabt, sein Vater betrachte die Geschichte einzig als die seine und nicht auch die des Sohnes.
Nichts könnte falscher sein, denn eine Entführung betrifft auch die, die hoffen, bangen, verzweifeln. Von ihnen allen, von Reemtsmas Frau, seinem Sohn, den Freunden und Bekannten, erzählt Scheerer in diesem übrigens erzähltechnisch gelungenen Werk.
Das Buch:
Johann Scheerers Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen – Die Geschichte einer Entführung“ ist im Piper Verlag (240 Seiten, 20 Euro) erschienen. Der Autor liest daraus am 4. April (19.30 Uhr) im Literaturhaus am Schwanenwik. Karten ab 15. März unter T. 0180/601 57 29. Am 3. Mai (20 Uhr) folgt eine Lesung in der Blankeneser Buchhandlung Kortes. Infos und Karten unter T. 86 29 78.