Hamburg. Antú Romero Nunes aktualisiert Kleists Novelle am Thalia Theater. Er kombiniert Clownerie, Schauspielertheater und politische Analyse.

Hinrichtung. Michael Kohlhaas wird aufs Schafott geführt, ein kurzes Zögern des Scharfrichters, dann fällt das Beil, und Kohlhaas’ Kopf purzelt in den bereitgestellten Korb. Tricktechnisch einwandfrei, aber dann senkt sich der Vorhang, das Stück ist vorbei. Dabei wurden am Thalia Theater noch nicht einmal fünf Minuten gespielt.

Der Vorhang senkt sich also, und aus den Lautsprechern tönt Wolf-Dietrich Sprengers sonore Stimme: „Hier endet die Geschichte vom Kohlhaas.“ Ja, nun. Aber in Antú Romero Nunes’ Inszenierung von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ gibt es drei Nachkommen des Titelhelden: Gerhard (Paul Schröder), Albin (Jörg Pohl) und Dustin (Thomas Niehaus) betreiben heute ein Import-Export-Unternehmen: Drei etwas ungepflegte Durchschnittstypen sitzen in einer runtergekommenen Lagerhalle (Bühne: Matthias Koch), trinken Muckefuck mit Schuss, machen manchmal in einer hübschen Arbeitschoreografie ein paar Pakete fertig und spielen sich die meiste Zeit kindische Streiche.

Guter Witz zum zweiten Mal erzählt

Über eine Dreiviertelstunde ruht sich die Inszenierung auf Clownerie und Slapstick aus, ein kaputtes Fahrrad wird zum Sparringspartner, eine laut vor sich hin köchelnde Kaffeemaschine zum Sinnbild für die poetische Tristesse des Settings, und manchmal erinnert ein scharfes Knacken aus dem Nebenraum daran, dass hier durchaus härtere Themen verhandelt werden als nur die kleinen Nickeligkeiten unter Brüdern, die zu viel Zeit miteinander verbringen: Eine Maus ist dann in die Falle geraten, Genickbruch.

Diese dreiviertelstündige Passage ist so abgründig wie unterhaltsam, und es wäre das reine Vergnügen, den Schauspielern zuzusehen – hätte Nunes nicht vorigen Sommer mit Homers „Odyssee“ einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgt. Damals setzte der Regisseur seine Stammspieler Niehaus und Schröder in eine Aussegnungshalle und ließ sie ebenfalls textfrei aber dafür mit viel Situationskomik die Homer-Vorlage zwischen Blumengebinde und Sarg nacherleben. Ähnlich gut funktioniert auch „Michael Kohlhaas“, nur dass man sich nach der „Odyssee“ des Eindrucks nicht erwehren kann, einen guten Witz zum zweiten Mal erzählt zu bekommen. Wobei das auch Nunes gespürt haben dürfte, jedenfalls beendet er das stumme Spiel und biegt nach 45 Minuten doch noch auf die Kleist-Spur ein.

Import-Export-Klitsche steht vor dem Aus

Die Import-Export-Klitsche steht vor dem Aus, „Zwangsvollstreckung“ quillt es drohend aus dem Fax, und die Gebrüder Kohlhaas sind erst mal nachvollziehbar verzweifelt. „Dabei habe ich doch immer alles richtig gemacht!“, jammert Niehaus, „Immer trifft es uns!“ Und dann dämmert er weg, in eine plötzlich irritierend traditionell aufgemachte Kleist-Inszenierung, in der dem Helden großes Unrecht geschieht und er nach und nach zum Widerstandskämpfer wird.

Aber Vorsicht: Die Kohlhaasens des Jahres 2018 sind eben nicht die von bürgerlichem Freiheitspathos beseelten Helden Kleists, das sind im Grunde fiese Spießer, die primär das eigene Wohlergehen als Maß aller Dinge sehen, Wutbürger, deren Horizont spätestens am eigenen Gartenzaun endet. Und wenn die glauben, dass ihnen Unrecht geschehe, dann kämpfen sie nicht für die Freiheit, dann rennen sie bei Pegida mit. An der eigenen Misere schuld sind sie ohnehin nicht, sondern im Zweifel die BRD GmbH: „Die wollen uns kleinhalten!“, keifen die Kohlhaas-Reichsbürger mit überschnappender Stimme, bevor sie ihre Pässe verbrennen.

Scharfe politische Analyse

Unmerklich ist die Inszenierung also von einer mehr oder weniger harmlosen Clownerie über ein paar Szenen traditionellen Schauspielertheaters zur scharfen politischen Analyse geworden, eine inhaltliche und formale Achterbahnfahrt, die zeigt, mit welcher Sicherheit der gerade mal 34-jährige Nunes sein Handwerk beherrscht. In einer weiteren Volte aber macht die Inszenierung ihre raffinierte Konstruktion auch noch öffentlich: Sprengers Märchenonkelstimme erzählt von der Geburtsstunde des Hip-Hop, wie die Samplingtechnik ermöglicht habe, jeden beliebigen Sound neu zu arrangieren.

Es geht um Neukontextualisierung, und was für die Musik eine Revolution darstellte, ist auch der Kern von Nunes’ Theater: Kleists Kohlhaas wird in einen neuen Kontext gestellt, und drei optimal auf­einander eingespielte Akteure sorgen dafür, dass das Ergebnis einen mitreißenden Flow entwickelt. Geschenkt, dass dabei nicht jede Idee zündet: Sich des zur Mäßigung aufrufenden Martin Luthers aufwendig mittels einer ­(echten!) Würgeschlange zu entledigen, ist etwa doch mehr Zirkus als durchdachte Inszenierung.

Ende ist der Anfang

Das Ende ist der Anfang: Die Reichsbürger haben sich mit Waffen in ihrer Halle verschanzt. „Jetzt wird es gleich laut!“, kündigt Pohl an, dann fliegen Kugeln, und natürlich hat ein Kohlhaas da keine Chance. Zwei reizende Fetischpferdchen machen mit Maschinenpistolen klar Schiff: Hinrichtung, Vorhang.

„Michael Kohlhaas“ läuft wieder am 27.1., 6.2., 10.2., 11.2., 18.2., 23.2., Thalia Theater, Karten zu 7,50 bis 52 Euro; T. 32 81 44 44, Am 27.1. gibt es im Anschluss ein Publikumsgespräch mit Regisseur und Ensemble