Hamburg. Nina Hoss brilliert in „Rückkehr nach Reims“ bei den Lessingtagen. Eine Abrechnung mit der Linken, die den Kontakt zur Basis verloren hat.
Selten wohl war das Bedürfnis, sich über das gerade Gesehene auszutauschen so groß. Nach der ausverkauften Vorstellung platzt das Mittelrangfoyer des Thalia Theaters beim Nachgespräch buchstäblich aus allen Nähten. Alle möchten über „Rückkehr nach Reims“ reden, Thomas Ostermeiers Inszenierung aus der Berliner Schaubühne nach dem gleichnamigem autobiografischen Buch von Didier Eribon.
Abrechnung mit den Linken
Es gilt vielen – obwohl bereits 2009 veröffentlicht – als das Buch der Stunde. Der französische Soziologe nimmt eine unerbittliche Abrechnung mit der politischen Linken vor, die den Kontakt zur Basis verloren habe, sich in intellektuellen Spielereien versteige und von ihrer Klientel, der einstigen Arbeiterklasse, die heute ein Prekariat der so geschmähten „Abgehängten“ darstelle, nicht mehr verstanden werde. Mehr noch, Eribon demaskiert eine Scham, einen Hass der Linken auf die Arbeiterklasse, erzählt anhand seiner eigenen Biografie.
Ostermeier tarnt das dokumentarische Geschehen nur hauchdünn als Theater – indem die wunderbare Nina Hoss sowohl als Synchronsprecherin Katrin und später als sie selbst auftritt. Der Regisseur – und ausgebildete Schauspieler – Ostermeier rettet zudem den Abend, indem er kurzfristig für den vergrippten Hans-Jochen Wagner in der Rolle eines tyrannischen Film-Regisseurs einspringt, der Katrin mit Vorliebe zurechtweist. Hoss’ ebenmäßige, unaufgeregte Stimme und ihre Bühnenpräsenz geben dem Abend Klarheit und Richtung.
Rassismus und Homophobie in der Arbeiterklasse
Eribon kehrt für die Zuschauer noch einmal nach Reims zurück, begleitet von einem Filmteam Ostermeiers. Während also auf der Leinwand die französische Landschaft mit gleichförmigen Arbeitersiedlungen vorüberzieht, erzählt Hoss von Eribon, dem Fabrikarbeitersohn aus der Provinz, einem Homosexuellen, der früh die Drangsal der Intoleranz spürt. Er flüchtet nach Paris, wird ein bekannter Soziologe, schreibt eine Michel-Foucault-Biografie, wird Opern-Liebhaber.
Später kehrt er nach Reims zurück, hockt mit der Mutter am Küchentisch. Die Geschwister sind entfremdet, statt der Kommunistischen Partei wählt die Familie jetzt den rechtspopulistischen Front National. Eribon sucht Erklärungsansätze für diesen inzwischen in ganz Europa zu beobachtenden Wandel. Er thematisiert Rassismus und Homophobie einer vom Strukturwandel gebeutelten Arbeiterklasse.
Engagement jedes Einzelnen zählt
Thatcher, Reagan, Schröder, in zittrigen Bildern tauchen sie noch einmal auf, Vorboten eines gesellschaftlichen Niedergangs. Weniger Staat, mehr hemmungsloses Kapital lautete die Devise – mit all ihren Folgen für jene, die nicht auf Rosen gebettet aufwachsen.
Man sucht nach Spuren von Hoffnung, von Utopie in diesem Elend der Verhältnisse, das längst auch auf Deutschland übertragbar ist. Wenn Nina Hoss in einem leider etwas raumgreifenden, weniger stringenten zweiten Teil von ihrem Vater, dem engagierten Gewerkschaftsführer, Kommunisten und Grünen-Mitbegründer Willi Hoss (1929–2003) erzählt, wird deutlich, dass das Engagement des Einzelnen sich lohnt, dass es tatsächlich einen Unterschied macht. Die Spannung des ersten Teils wird in der zweiten Hälfte von „Rückkehr nach Reims“ zwar nicht gehalten, dennoch wirkt dieser Abend lange nach.