Hamburg. Der im Exil lebende türkische Journalist Can Dündar hielt im Thalia Theater eine bewegende Rede zum Auftakt der Lessingtage.

Standing Ovations, vereinzelt erklang sogar der Ruf „Hoch die internationale Solidarität“: Im ausverkauften Thalia Theater sorgte am Sonntagvormittag die bewegende Lessingtage-Eröffnungsredevon Can Dündar, im Berliner Exil lebender, türkischer Journalist und ehemaliger „Cumhuriyet“-Chefredakteur, für große Emotionen. Explizit politisch war das Festival ja schon immer, doch die diesjährige Ausgabe verspricht, besonders engagiert zu werden, denn die Demokratie ist vielerorts bedroht. Und damit auch die Freiheit vieler Künstler, Journalisten, Intellektueller.

Joachim Lux erinnerte an politisch verfolgte Künstler

Ein Zeichen für Courage und Demo­kratie und damit für die Freiheit zu setzen, sei das Ziel, so Thalia-Intendant Joachim Lux in seinen Eingangworten. „Sprache ist eine Waffe, haltet sie scharf“ zitierte er Kurt Tucholsky und erinnerte an akut gefährdete Regisseure: Der Kreml-Kritiker Kirill Serebrennikow steht in Russland unter Hausarrest, Árpád Schilling gilt in Ungarn als Staatsfeind, Oliver Frljić erhält in Bosnien Morddrohungen. In Polen sei gar eine regelrechte Säuberungswelle in der Kulturszene im ­Gange.

„In der Türkei sitzen 170 Journalisten im Gefängnis“, erklärte Kultur­senator Carsten Brosda (SPD) im Anschluss. „So viele wie in keinem anderen Land der Welt.“ Nur noch 13 Prozent der Weltbevölkerung hätten Zugang zu unabhängigen Medien. Journalisten würden bedroht, drangsaliert, eingeschüchtert, verfolgt und getötet. Noch immer unter ihnen: Der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel, der in der Türkei in Haft sitzt. „Das braucht unsere deutliche Gegenwehr.“

Demokratie war immer eine Utopie

Dann trat Can Dündar ans Mikrofon und hielt eine Eröffnungsrede, die die Zuhörer von der ersten Minute an fesselte. Drei Monate verbrachte er, der Spionage angeklagt, in einem türkischen Gefängnis in Isolationshaft. In seiner simultan übersetzten Rede spannte er einen großen Bogen von der Türkei bis hin zu internationalen geopolitischen Interessen.

„In der Türkei haben wir die Demokratie nie vollständig einatmen können“, sagte er. „Und so war Demokratie für uns immer eine Utopie.“ In seinem Leben habe er vier Militärputsche erlebt. „Die Panzer sind durch unser ganzes Leben gerollt.“ Inzwischen sei die Demokratie in der ganzen Welt bedroht, sogar im Westen, in der Wiege der Demokratie, und in den USA. „Ist ein Land, das ein Foltergefängnis wie Guantanamo unterhält, noch demokratisch zu nennen? Sind Demokratien, die Faschismus exportieren, noch demokratisch?“, fragte Dündar. Der Westen habe Militärputsche – auch in der Türkei – unterstützt. Und Islamisten im Kampf gegen den Kommunismus.

Aktive Demokratie sei nötig

Es gebe Regime, wie in der Türkei, die die Demokratie nutzen, um an die Macht zu gelangen, und sie anschließend auszuhöhlen. „Es geht nicht um die Herrschaft der Mehrheiten, sondern die Rechte die Minderheiten. Das ist Demokratie.“ Die Demokratie verlange den Kompromiss, das internationale Kapital jedoch ziehe totalitäre Regime vor, mit denen sich leichter Geschäfte machen ließen. Sein Fazit: Alle vier Jahre zur Wahlurne gehen, reicht in dieser Welt nicht mehr aus. Das sei lediglich passive Demokratie. Was es brauche sei jedoch eine aktive Demokratie. Eine Demokratie im Alltag, die jeden Tag neu erkämpft werden müsse. In Verbänden, Universitäten, Organisationen.

Heute kontrolliere der Staat das Volk ideologisch, es gebe nur noch fünf Prozent unabhängige Medien in der Türkei. „Wir müssen für das Selbstverteidigungsrecht der Demokratie eintreten, und das können wir nur über eine internationale Solidarität.“ Politisch motivierte Angriffe auf Journalisten wie Deniz Yücel würden zu einer Selbstzensur der Medien führen. Es brauche gemeinsame Aktionen für die Meinungsfreiheit.

Notwendig sei eine neue Demokratiebewegung

Angst sei heute das dominierende Gefühl. Hass, Einigelung, Passivität seien die Folge. „Trump, Putin, Erdogan sind der Grund dieser Ängste und ihr Resultat.“ Die Menschen seien „zu Krokodilen geworden, die Handtaschen kaufen. Sie haben sich verliebt in ihre Mörder.“ Europa drücke wegen des Flüchtlingsdeals im Falle der Türkei beide Augen zu. Es brauche eine neue Demokratiebewegung, die sich mit Ängsten, Fragen und Problemen auseinandersetze. Nationalismus bereite dem Totalitarismus den Weg.

Eine kämpferische, eine notwendige Rede mit unbequemen Wahrheiten, die sich wohl insbesondere an jene richtete, die die Demokratie nie erkämpfen mussten, sondern sie bislang als selbstverständlich hingenommen haben. Doch Can Dündar ließ im Thalia Theater keinen Zweifel daran, dass es dringend notwendig ist, diese Illusion zu überwinden.