Hamburg. Die Band um Jan Plewka meldet sich mit ihrem neuen Album „Kashmir Karma“ zurück. Elf neue Songs, die sehr retro klingen.

Ein klarer Wintertag in Mittelschweden. Strahlend blauer Himmel, gleißendes Schneelicht über den Gärten, an den Bäumen gefrorene Äpfel, die niemand rechtzeitig geerntet hatte. Vier Gestalten kraxeln die Küste nach Hunnebostrand hinunter. „Wir haben uns gefühlt wie die Hobbits, die sich vor der bösen Macht verstecken“, sagt Jan Plewka Monate später. An jenem Morgen hatten er und seine drei Kumpels erfahren, dass Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten gewählt worden ist. „Wir waren so schockiert, dass wir erst einmal spazieren gehen mussten.“

Eigentlich warenPlewka und seine Gefährten damals nach Schweden gekommen, um Ideen für ein neues Selig-Album zu sammeln, Songs zu schreiben. An diesem Novembertag ist das ­unmöglich, weil er mit Christian, Leo und Stoppel das US-Wahldesaster diskutieren muss. Am Abend sitzen sie an ihren Instrumenten, jammen und haben die Idee für einen ersten Song. „Wintertag“ wird er heißen. Trump kommt nicht vor, aber das Gefühl des morgendlichen Spaziergangs findet sich in Plewkas Text wieder.

Positive Visionen entwickeln

„Es ging darum, positive Visionen zu entwickeln und schöne Melodien zu finden. Wir haben uns wieder auf unsere Hippie-Wurzeln berufen“, sagt Plewka über die Aufnahmen zum aktuellen Selig-Album „Kashmir Karma“. „Wir wollten alternatives Leben wiederentdecken und es zelebrieren“, ergänzt Leo Schmidthals, Bassist der Hamburger Band. „Wie eine Gang, die loszieht, um für das Gute zu kämpfen“, setzt Plewka noch einen oben drauf.

Fünfmal, jeweils zehn Tage lang, ist die Viererbande von November 2016 bis zu diesem Sommer an Schwedens Westküste gereist, um in dem Fischerdorf nördlich von Göteborg das neue Album aufzunehmen. Gearbeitet wurde in einem für die Gegend typischen falunroten Haus mit Seeblick, das auf einem Felsen thront. Es wird im Ort das „Poeten-Haus“ genannt und gehörte den Großeltern von Plewkas Frau. Das ­Cover zeigt den Blick auf das Meer und die vorgelagerten Schären, tief in der Nacht im Mittsommer fotografiert. „Der Himmel ist hier weiter“, sagt ­Gitarrist Christian Neander. Für die Musiker ist das Haus wie ein mythischer Ort. „Die Felsen erden dich, sie sind wie ein Magnet“, sinniert Schmidthals.

Besonderer „Spirit“

Beim Interview in einem Hamburger Hotel werden die vier Musiker nicht müde, immer wieder den besonderen „Spirit“ zu betonen, der diese Aufnahme-Sessions beflügelt hat. „Wir konnten alles ablegen. Wir waren nur mit uns beschäftigt. Wir haben gekocht, sind spazieren gegangen, haben musiziert. So wie Bands das früher gemacht haben. Jedes Mal, wenn ein Lied fertig war, ­haben wir es sofort aufgenommen“, sprudelt es aus Schmidthals heraus. Plewka fasst die Sessions in einem kurzen Satz zusammen. „Meditieren statt editieren“, sagt er, und alle am Tisch biegen sich vor Lachen.

Herausgekommen sind bei den fünf Sessions elf neue Songs, die sehr retro klingen. Der Eröffnungssong „Unsterblich“ erinnert mit seinen dunklen Riffs und dem treibenden Beat an Joy Division, Bei „Zu bequem“ lässt Christian Neander seine Gitarre sprotzen wie Norman Greenbaum bei „Spirit In The Sky“, andere Nummern besitzen eine Nähe zum Krautrock. Neander setzt Wah-Wah-Pedals und Fuzz-Geräte ein und schafft Sounds, die sich nach 60er- und 70er-Jahre anhören.

Gegen den aktuellen Electro-Trend

Selig macht Musik, die gegen den aktuellen Electro-Trend geht. Obwohl in der Branche gerade die Meinung herrscht, dass Gitarrenbands mal wieder tot sind, läuft das Quartett bei seinen Vertragsgesprächen mit allen wichtigen deutschen Labels offene Türen ein. „Endlich mal wieder Musik“, ­bekommen sie zu hören. Vier von fünf ­Labels wollen mit Selig einen Deal ­abschließen, die Band entscheidet sich für Sony Records. Dort ist die Platte am vergangenen Freitag erschienen.

Der Sound der Band hat sich auch geändert, weil Keyboarder Malte Neumann die Band im Herbst 2014 verlassen hat. Einen neuen Musiker für die Tasteninstrumente holen Plewka und Co. nicht in ihre Band. Für Neander hat Selig durch die Reduzierung gewonnen: „Jeder hat jetzt mehr Freiräume und Leerstellen werden nicht mehr vom Keyboarder überdeckt und ausgefüllt.“ Die vier Musiker wissen aber auch, dass das neue Klangbild mit den verzerrten ­Gitarren im Formatradio kaum Chancen hat. „Dort gibt es nur noch Deutsch-Pop und irgendwelche DJs. Rockmusik findet im Radio nicht mehr statt. Es ist ein Trauerspiel“, sagt Schmidthals und sinkt in seinem Sessel zurück. Beim ­Gedanken an Radio verdüstert sich seine Miene. „Im Internet kannst du noch ganz gute Sender finden“, schiebt er hinterher.

Echte Rockband

Selig gehört zu den Bands, die sich über ihre Konzerte definieren. Das war schon 1993 so, als die Band in Hamburg gegründet wurde, und das ist 2017 immer noch so. Am 12. November spielt Selig in der Großen Freiheit 36. Sie ­haben sich für das CD-Release-Konzert und die anschließende Deutschland-Tour einiges vorgenommen. Selig will sich wieder als echte Rockband präsentieren, die jeden Ton selbst spielt. Neander bringt dieses neue Credo auf den Punkt: „Nie wieder Computer.“

Album: Selig: Kashmir Karma (Sony Music) Konzert: So 12.11., 20.00, Große Freiheit 36 (S Reeperbahn), Karten 37,60; www.selig.eu