Hamburg . Robert Harris' neuer Roman hat das Münchener Abkommen 1938 zum Thema. Der Bestseller-Autor fährt zweigleisig – faktentreu und fiktiv.
Was wäre geworden, wenn? Das ist die eine große Frage, die viele Historiker bei der Analyse des Gewesenen umtreibt. Was hätte auch und gleichzeitig sein können, wenn der Mantel der Geschichte weht? Das ist die Frage, die sich der britische Autor Robert Harris gern zur literarischen Aufgabe macht. Den Vatikan hat er sich dafür bereits ebenso vorgenommen wie das Leben von Cicero, und das gleich für eine Trilogie. Vor einem Vierteljahrhundert hat Harris mit einer Dritte-Reich-Dystopie „Vaterland“ für Aufsehen gesorgt: In diesem finsteren Paralleluniversum hatte Hitler den Krieg gewonnen und Europa unterjocht, die Geschichte begann 1964 mit dem 75. Geburtstag des Führers.
Ein Jahr später öffneten sich die Tore der Hölle
In „München“, seinem mittlerweile zwölften Roman, illusioniert der ehemalige Politikjournalist Harris seinen Plot um einige Tage im September 1938 herum, in denen er Adolf Hitler diesen Satz sagen lässt: „Heute ist Dienstag, und am nächsten Montag werden wir alle Krieg führen.“ Jene Herbsttage, in denen Premierminister Neville Chamberlain und Hitler in dessen Münchner Privatwohnung am Prinzregentenplatz aufeinandertrafen, sekundiert vom Franzosen Daladier und dem Italiener Mussolini. Umgeben von ihren Diplomaten, die jede Silbe des Gesagten und des Gemeinten mehrfach umdrehten. Am Ende dieser Tage jedoch sollte Chamberlain umjubelt der Krieg befürchtenden Welt das Münchner Abkommen präsentieren, das Sudetenland kam deswegen „heim ins Reich“.
Und Chamberlain sollte euphorisch zuversichtlich von „Frieden für unsere Zeit“ sprechen. Es kam anders, knapp ein Jahr später öffneten sich die Tore der Hölle. Dass man die katastrophale Fortsetzung dieses Geschichtskapitels so gut kennt und diesen Erfahrungsvorsprung nicht ausblenden kann, schadet dem Leseerlebnis nicht. Macht und Ohnmacht liegen, wer wusste das nicht schon längst, unschön nah beieinander.
Doch wie es sich für einen Showdown in einem Historien-Krimi gehört, sind die faszinierenderen Charaktere eher die zufälligen Helden. Harris erzählt zwar auch die Geschichte vom viktorianisch anmutenden Briten sehr alter Schule und dem aus der Nähe nach Schweiß stinkendem österreichischen Ex-Gefreiten, die Geschichte ihres Taktierens und der vielen Winkelzüge, die hinter den jeweiligen Kulissen der Macht passieren, bevor tatsächlich die Tinte auf einem Vertrag trocknen kann. Doch Harris‘ zentrale Brüder im Geiste, als Protagonisten durch einen schon zu ahnenden Frontverlauf getrennt, sind zwei junge Karrierediplomaten: Hugh Legat, ein Privatsekretär Chamberlains, und Paul von Hartmann aus dem Berliner Außenministerium.
Grundlage ist Adam von Trott zu Solz
Beide hatten sich in ruhigeren Zeiten beim Studium in Oxford kennengelernt und angefreundet. Sie sprechen buchstäblich eine gemeinsame Sprache. Beide wollen den Sturz in den Abgrund eines unbeherrschbaren Krieges vermeiden. Und so weit hergeholt, wie es zunächst scheint, ist die Figur des Deutschen gar nicht, denn sein Lebenslauf basiert auf der Biografie des Juristen, Diplomaten und Widerstandskämpfers Adam von Trott zu Solz, der in Oxford studiert hatte und an der Verschwörung vom 20. Juli 1944 beteiligt war. Wenige Wochen später wurde er von den Nazis in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Nach einem eher gemächlichen Einstieg in die leicht schrulligen Befindlichkeiten der damaligen britischen Politbürokratie – als Abwechslung zum Regieren diktiert Chamberlain gern Leserbriefe übers Vogelbeobachten – nimmt die Geschichte Fahrt auf. Denn der eine hat Belege für Hitlers wahre Absichten, die weit über das Befürchtete hinausgehen. Der andere ist offenbar die einzige Person, die diese Information rechtzeitig vor Ende der Verhandlungen bei Chamberlain platzieren könnte, während der sich redlich bemüht.
Virtuose Routine eines Bestseller-Autors
Harris fährt mit der virtuosen Routine eines Bestseller-Autors, der sein Handwerk beherrscht, virtuos zweigleisig: Er bleibt bei den historischen Gegebenheiten und ihrem bitteren Ende bei den Fakten, zieht aber unmittelbar daneben eine zweite Erzählebene ein, die fiktiv erzählt und gleichzeitig die Spannung schürt. Eine Lösung für das weltpolitische Dilemma, in das sich Neville Chamberlain manövriert hatte, hat Harris nicht parat. Doch das wäre von einem Roman auch wirklich zu viel verlangt.
Harris in Hamburg Im Rahmen des Hamburger Krimifestivals stellt Harris sein Buch am 8.11. (20 Uhr) auf Kampnagel vor. Moderation: David Eisermann, gelesen von Gustav Peter Wöhler. Karten (16,50 Euro, erm. 14,50 Euro) in der Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, T. 30 30 98 98.