Hamburg. Tanz den Noam Chomsky: „Fractus V“ eröffnet mit einem kritischen Appell die Saison. Sidi Larbi Cherkaoui steht selbst auf der Bühne.

Der Meister tanzt diesmal sogar selbst. Sidi Larbi Cherkaoui ist einer der gefragtesten und erfolgreichsten Choreografen unserer Zeit. Es ist schwer, ihn zu fassen zu kriegen. In „Fractus V“, das jetzt die neue Spielzeit auf Kampnagel glanzvoll eröffnete, steht er selbst auf der Bühne, blass, schmal, in Jeans und Shirt, aber voller Energie und Konzentration, umringt von vier weiteren Tänzern aus unterschiedlichen Ländern und flankiert von Musikern aus Japan, Korea, Indien und dem Kongo. Die Verbindung von Bewegung, Text und Musik ist seit Langem das Markenzeichen des weltweit gefeierten marokkanisch-belgischen Künstlers.

In „Fractus V“ sind es die Texte des US-amerikanischen Sprachwissenschaftlers Noam Chomsky, die auf eine Leinwand projiziert und von Tänzern zitiert werden. Sie sprechen davon, dass man sich Menschen mit Gewalt nicht gefügig machen kann, wohl aber, indem man sich ihrer Gedanken bemächtigt. Nach diesem Prinzip funktioniere Propaganda – auf allen Seiten. Chomsky hat Jahrzehnte der Forschung und dicke Bücher der Verbindung aus Sprache und Macht gewidmet. Und Cherkaoui spart mit Chomsky nicht an Medienschelte – gepaart mit der Aufforderung, sich gegen Manipulationen zur Wehr zu setzen. Das Thema ist clever gewählt und so aktuell, dass jeder im Saal sofort Zugang zu der Tanzperformance findet.

Eindimensionale, realistische Bilder

Auf der Bühne kreiert Cherkaoui zunächst eher eindimensionale, realistische Bilder. Eine Erschießungsszene inklusive Revolver wiederholt sich zigfach. Eine aus Bühnenteilen aufgebaute Dominoreihe „erschlägt“ einen TV-Zapper mit Fernbedienung in der Hand. Die Gewalt, von der Chomsky spricht, übersetzt der Choreograf in explizite Aktion auf der Bühne. Mal reihen sich die Tänzer selbst wie Dominosteine auf, vollführen geometrische Armgesten, die auf Hip-Hop-Bewegungen verweisen.

Doch dann werden sie zunehmend runder, fließender, die vier Musiker erhalten mehr Raum. Je abstrakter die Choreografie sich entwickelt und je dominanter die Musik wird, desto stärker entwickelt sich der Abend. In einer Body-Percussion-Szene gibt der fantastische japanische Trommler Shogo Yoshii inmitten der Tänzer sogar den Takt vor. Alle vier bringen eine individuelle Körpersprache ein, vom eher virilen Johnny Lloyd bis zum feinnervigen Dimitri
Jourde. Fabian Thomé Duten tanzt barfuß in nur wenigen Szenen – er hat sich kurz vor der Vorstellung einen Zeh gebrochen.

Auch wenn der Abend dadurch zehn Minuten kürzer ausfällt, am Ende ist der Jubel groß. Die Hamburger reißt es für minutenlange Ovationen von den Sitzen für Cherkaouis am Ende bislang vielschichtigsten Tanzabend.

Sidi Larbi Cherkaoui: „Fractus V“ 13./14.10., jeweils 20.00, Kampnagel, Jarrestraße 20–24, Karten unter T. 27 09 49 49; Infos im Internet: www.kampnagel.de