Hamburg. Bis zum 15. Oktober läuft die Frankfurter Buchmesse. Hier finden Sie die Empfehlungen der Abendblatt-Redaktion.
Zwölf Bücher im Schnitt erwarb im vergangenen Jahr jeder Deutsche immerhin, meldet der Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Ob er die verschenkte oder ungelesen ins Regal stellte, muss unklar bleiben, aber man darf wohl sagen: „verschenken“ und „stellen“ sind schon meist die richtigen Vokabeln, denn der Triumphzug des E-Books ist bekanntlich erst einmal gestoppt. Der Umsatzanteil elektronischer Bücher stagniert seit Jahren bei unter fünf Prozent.
Aber auch echte Bücher kann man nicht essen – und wenn doch, dann nur für den Preis eines schmerzenden Magens. Recht hat die Bundeskanzlerin dennoch: Angela Merkel hält Lesen nämlich „ähnlich wie Lebensmittel“ für ein Grundbedürfnis. Und fuhr deswegen selbst nach Frankfurt, um mit Staatspräsident Emmanuel Macron die Buchmessezu eröffnen. Frankreich ist in diesem Jahr Gastland der weltgrößten Buchmesse, eine echte Literaturgroßmacht also – die neuen Romane von Virginie Despentes, Édouard Louis oder Marie NDiaye sind unbedingt empfehlenswert. Oder Gustave Flauberts „Drei Geschichten“: Das letzte Werk des großen Schriftstellers ist nicht sein bekanntestes, aber man sollte es dennoch einen Klassiker nennen. Es erscheint nun in einer formschönen Neuübersetzung in der Klassikerreihe des Hanser-Verlags.
Ishiguro, Menasse und Atwood
Ein neuer Literaturnobelpreisträger ist schon gefunden, dem Briten Kazuo Ishiguro („Was vom Tage übrig blieb“) wurde die wichtigste literarische Auszeichnung zuerkannt. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der traditionell am letzten Tag der Buchmesse in der Paulskirche übergeben wird, geht in diesem Jahr an die Kanadierin Margaret Atwood („Der blinde Mörder“). Und der Deutsche Buchpreis, das wissen wir seit Montag, an den Österreicher Robert Menasse und seinen EU-Roman „Die Hauptstadt“. Wer sich von den Ehrungen zur nachholenden oder abermaligen Lektüre motiviert fühlt, der liest demnächst also auch Ishiguro, Menasse und Atwood. Oder stürzt sich eben ganz auf die aktuelle Literaturproduktion.
Die Abendblatt-Kulturredaktion hat sich die Neuerscheinungen vorgenommen und die besten, interessantesten, schönsten, spannendsten und überraschendsten Titel testgelesen. Wir stellen sie auf dieser Literaturseite vor.
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Ein Polit-Krimi
Bereits mit seinen ersten beiden Romanen „Der Schwimmer“ und „Der Bruder“ hat sich der 1975 in Stockholm geborene Joakim Zander als starke und politische Stimme in der schwedischen Thrillerszene etabliert: Er arbeitete übrigens einst für das Europäische Parlament und die Europäische Kommission. Auch in „Der Freund“ (Rowohlt Polaris, 14,99 Euro), dem dritten Band mit der Menschenrechtlerin Klara Walldéen, behandelt Zander ein eminent politisches Thema: Eine Freundin Klaras wird in Stockholm verhaftet, angeblich wegen terroristischer Umtriebe. Klara will das nicht glauben – und beginnt zu recherchieren. Ihr Weg führt sie nach Beirut, schließlich nach Brüssel. Und vermeintliche Gewissheiten geraten unterwegs ins Wanken, als Klara versucht, ihrer Freundin zu helfen. Es sind starke Figuren, die Joakim Zander entwickelt, schlüssig ist die Dramaturgie, packend der Showdown, brisant und aktuell der Stoff, aus dem diese Geschichte gesponnen ist. Joakim Zander steht in einer Reihe mit Stieg Larsson und David Lagercrantz. (va)
Diese Ehemänner
Jarvis Miller ist geübt darin, zu warten. Seit sechs Jahren liegt ihr Mann, ein berühmter New Yorker Maler, im Koma, nachdem er in seinem Atelier gestürzt war. Jarvis wartet darauf, dass er aufwacht, stirbt – oder einfach weiterschläft. Sechs Jahre mit Ärzten und Pflegepersonal, mit innerem Rückzug und emotionaler Abstumpfung. Jami Attenbergs Roman „Ehemänner“ (Schöffling & Co., 24 Euro) beginnt, als sich Jarvis’ Leben allmählich wieder öffnet. In einem Waschsalon lernt sie drei Typen kennen – charmant, interessant und allesamt verheiratet mit besser verdienenden Frauen. Die Autorin, Jahrgang 1971 und wohnhaft in Brooklyn, schildert nicht nur die Entwicklung einer Frau zwischen Alt und Jung, zwischen Verlust und Lebenslust, sie erzählt auch viel vom Wandel der Stadt in den Nullerjahren, von sich ändernden Rollenbildern und einem zynischen Kunstmarkt, in dem Krankheit und Tod die Preise in die Höhe treiben. Ihre Sprache ist klar und ruhig, von feiner Ironie und einer Melancholie durchwirkt, die stets Hoffnung in sich trägt. (bir)
Ödipus in der Türkei
Der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk gilt als prominenteste literarische Stimme der Türkei. In seinem neuen Roman „Die rothaarige Frau“ (Hanser-Verlag, 22 Euro) erzählt er raffiniert in Form einer Parabel vom Widerstand und vom Konflikt zwischen Tradition und Moderne, Osten und Westen. Es ist vor allem eine Familien- und insbesondere eine Ödipus-Geschichte, ein Märchen von Rache und Vatermord. Sie handelt von abwesenden Vätern. So kommt es, dass der junge Cem sich unwissentlich in eine Ex seines im Untergrund agitierenden Vaters verliebt. Ein Brunnenbauer wird zum Vaterersatz im fiktiven Ort Öngören, die bei Silivri liegt, nicht zufällig heute Heimstatt des größten Gefängnisses Europas. Cem wird Jahrzehnte später, da ist er längst wohlhabender Textilfabrikant, von seiner Vergangenheit und einer Schuld eingeholt werden. Fein und erstaunlich leichtgängig erzählt Pamuk vom Großen im Kleinen, von der Politik als Folge von Familienereignissen. Von Korruption, Neoliberalismus, von Individualismus und Gottlosigkeit – und einer am Ende alles richtenden Natur. (asti)
Die ewige Jungfrau
Sheila ist 22 Jahre alt und hat ihren Uni-Abschluss in der Tasche, als sie Jake auf einer Party kennenlernt. Sehr schnell macht sie ihm klar, dass sie Jungfrau ist und dies auch bis zur Hochzeitsnacht bleiben wird. Ihre Unberührtheit sowie ihre Prüderie stacheln Jakes Verlangen an, entwickeln sich aber nach der Trauung mehr und mehr zu einem Albtraum. Trauriges und Überraschendes erleben auch die anderen Figuren im Erzählungsband „Jungfrau und andere Storys“ (Rowohlt, 19,95 Euro) der jungen amerikanischen Autorin April Ayers Lawson. Die 13-jährige Gretchen zum Beispiel, die im Haus ihrer Klavierlehrerin immer wieder hofft, deren krebskranken Bruder zu sehen. Oder Connor, der seine Mutter zur Beerdigung ihrer besten Freundin begleitet, die einmal ein Mann gewesen ist. Fünfmal geht es in diesen gelungenen Storys um das Verhältnis zwischen Mann und Frau, was sie trennt, aber auch, was sie verbindet, um Sex, Verlangen, Missbrauch oder Religion. April Ayers Lawsons Sprachstil ist dabei immer unsentimental, manchmal sogar kühl. Keine leichte Kost insgesamt – und trotzdem überaus lesenswert. (kil)
New York in den 70ern
Die US-Amerikanerin Irene Dische lebt seit 40 Jahren auch in Berlin. Sie hat vor allem in den vergangenen 20 Jahren einige Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten und Krimis geschrieben und ist für ihre Werke vielfach ausgezeichnet worden. Mit ihrem neuen Roman „Schwarz und Weiß“ (Hoca, 26 Euro) entführt sie ihre Leser ins New York der 70er-Jahre. Mit Duke, einem schwarzen Exsoldaten, der sich zum berühmten Weinverkoster entwickelt, und der weißen Lili, einer Tochter aus dem intellektuellen New Yorker Milieu, die als Model Karriere macht, durchmisst sie drei Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts. Das Leben des Paares ist nie mittelmäßig, sondern meist schwarz oder weiß, denn Lili ist exzentrisch, Duke eher stoisch. Das Paar erlebt die große Liebe, Höhenflüge, Abstürze und sogar Mord und Totschlag. Ganz geheimnisvoll meldet sich zuweilen Jo aus dem Off. Was es mit Dukes Familie auf sich hat, soll für alle ein Rätsel bleiben. Wird es aber nicht. Dische erzählt fesselnd und modern, indem sie Träume mit Realitäten konfrontiert, Illusionen mit Kräften, die noch stärker sind. (See)
Deutschland
Wartburg, die Pfalz, Helgoland, Wolfsburg, Malle: Der unerschrockene, extrem anmaßende und wahnsinnig smart daherschreibende Autor Pascal Richmann will in seinem Essaybuch „ Über Deutschland, über alles“ (Hanser, 20 Euro) das Deutschtum abfahren, das Land erkunden, das Rechtssein vermessen. Da schluckt man schon, denn wer die Tümelei sucht, der findet sie. Übrigens überall auf der Welt; aber das „Völkische“ mieft in Deutschland geschichtsbedingt mehr als anderswo. Richmann, Jahrgang 1987, ist ein Mann auf der Suche nach Gefühlen fürs Vaterland, der sich von Burschenschaftlern nicht aus der Ruhe bringen lässt und sich mit Heine imprägniert. „Über Deutschland, über alles“ ist der frei flottierende, grundsätzlich übertourige Text eines Gegenromantikers, der alles andere als einen Erlebnisbericht schreibt. Hier ist manches dazugedichtet, und der Erzähler Richmann ist eine Kunstfigur, die manches erlebt, vor allem aber viel gelesen hat: Brod, Mauss, Franzen, Kracauer. Und Heine, immer wieder Heine – Richmanns Deutschland-Märchen ist unterhaltsam und steht auf den Schultern eines Giganten. (tha)
Tastenficker legt nach
Es gibt ziemlich viele miese Musikerjobs, und der Berliner Christian Lorenz alias Flake hat den absolut miesesten abbekommen und dennoch größte Freude daran: Seit 1994 ist er Keyboarder der Brachial-Rocker Rammstein und wird seitdem bei jedem Konzert verhauen, im Kessel gekocht, mit Raketen beschossen oder über Laufbänder gescheucht. Dabei ist er nicht nur ein versierter Musiker, sondern auch noch ein begnadeter Beobachter und entwaffnender Humorist, Meister der Selbstironie und Selbstverkenntnis. Das stellte Flake bereits 2015 mit seiner köstlichen Autobiografie „Der Tastenficker“ unter Beweis, die nur einen Mangel hatte: Rammstein kam nur am Rande in diesem Buchdebüt vor. Aber Flake tut stets, wie ihm befohlen, und liefert nun mit „ Heute hat die Welt Geburtstag“ (S. Fischer Verlag, 19,99 Euro) nach: Geradezu minutiös erlaubt Flake ungeschönte, unfassbare Blicke hinter die Kulissen von Deutschlands erfolgreichster Rockband, ihrer Entwicklung und ihren wahnwitzigen Liveshows. „ Manche Sachen glaubt man erst, wenn man sie erlebt hat. Manche auch dann nicht“, steht da. Rrrichtig! (tl)
Aus Liebe zum Buch
Wer Grisham kauft, der weiß in der Regel ziemlich genau, was ihn erwartet: ein spannender, gut gebauter Justiz- oder Wirtschaftsthriller. Insofern ist der neue Roman des produktiven Bestsellerautors aus dem US-Bundesstaat Virginia vermutlich eine Produktenttäuschung. Denn in „Das Original“ (Heyne, 19,99 Euro) geht es weniger um international operierende Anwaltskanzleien als vielmehr, ja, tatsächlich: um die Liebe zur Literatur. Wird John Grisham etwa sentimental? Vielleicht, ein klein wenig. Trotzdem ist „Das Original“ ein gewohnt fesselnder Roman, denn am Anfang steht ein spektakulärer Raub: Eine Ganoventruppe entwendet wertvolle handgeschriebene Manuskripte von F. Scott Fitzgerald, eine junge Autorin soll einem smarten Buchhändler mit Sammelleidenschaft in Florida auf die Schliche kommen. Wie nebenbei wird Freud und Leid der Buch(händler) branche kenntnisreich und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Selbst einer der lektüreunerfahrenen Gauner ist hingerissen: „Lesen war seine Sache nicht, aber diesen Fitzgerald fand er spannend.“ Das gilt ganz ohne Zweifel auch für diesen Grisham. (msch)
Eine "Idiotin"
Selin, Tochter türkischer Einwanderer, kommt 1995 nach Harvard, um Literatur zu studieren. Doch sie findet sich weder im Uni-Betrieb noch in ihrem eigenen Leben auf Anhieb zurecht. Selin ist unerfahren in der Liebe, sie und Ivan umschleichen sich monatelang, ohne dass es zu einer Berührung kommt. Aber russische Literatur und Sprache beschäftigen sie und bringen sie in den Semesterferien nach Ungarn. Elif Batuman, amerikanische Schriftstellerin mit türkischen Wurzeln, beschreibt in ihrem Roman „Die Idiotin“ (Fischer, 24 Euro) das Erwachsenwerden. Sie erzählt dieses etwas verspätete „Coming of age“ in einer wenig komplexen Sprache, aber mit lustigen Anekdoten. Selin geht mit wachen Augen durch die Welt, begegnet Gleichaltrigen, die ähnliche Probleme haben, und verhält sich oft ziemlich naiv. Doch man folgt der jungen Studentin gern auf ihrem Weg. Wer die TV-Serie „Girls“ mag, wird auch „Die Idiotin“ lieben. (oeh)
Brennen gegen die SPD
Hanno ist zehn und liebt Fußball. So sehr, dass das Sammelalbum, das er mithilfe seines Taschengeldes füllt, ein unverzichtbarer Alltagsbegleiter ist. Hannos Mutter hat für dieses Hobby wenig Verständnis, ihr Auftrag (und damit auch Hannos Auftrag) ist die Rettung der Menschheit vor den Gefahren der Atomkraft. Jedenfalls seit der Asket und „Lebensschützer“ Hartmut ins Souterrain des Familieneigenheims gezogen ist. Also verbringt Hanno gezwungenermaßen viel Zeit auf Demos und beim Flugblätterverteilen in Fußgängerzonen. Immer stärker gerät die Mutter in Hartmuts Bann, dessen Fanatismus keine Grenzen kennt. Und Hanno ist stets dabei. In „Ein Mensch brennt“ erzählt Nicol Ljubic eine wahre Geschichte, die des Hartmut Gründler, der sich aus Protest gegen die SPD-Atompolitik 1977 in Hamburg selbst verbrannte. Ein Stück vergessene bundesrepublikanische Geschichte, betrachtet mit den Augen eines Kindes. (hot)
Stories-Nachschlag
Es ist ja immer ein bisschen tragisch, wenn einem Künstler erst nach seinem Tod die volle Anerkennung für sein kreatives Schaffen zuteilwird. Die Schriftstellerin Lucia Berlin starb 2004 – und wurde 2015 in den USA durch den Sammelband „A Manual for Cleaning Women“ wiederentdeckt. „Was ich sonst noch verpasst habe“ hieß die erste Sammlung ihrer Stories auf Deutsch. Sie wurde, übersetzt von Antje Rávic Strubel, ein Bestseller. Nun gibt es Nachschlag: „Was wirst du tun, wenn du gehst“ (Arche, 19 Euro). Tatsächlich lernt man hier nun keine völlig neue Facette der Autorin kennen, erfreut sich aber dennoch ihres kunstvollen Tonfalls. Die sanftmütige Lakonie, frei von Selbstmitleid, überzeugte schon im ersten, damals doppelt so umfangreichen Band. Lucia Berlin, die hier unter anderem das Sterben ihrer Schwester schildert, gelingt es, das unsentimental und eben darum voller Innigkeit zu tun. (msch)