Hamburg. Offensichtlich leben Musikfans in zwei Welten: die einen wollen „nur“ die Musik, die anderen auch etwas in der Hand halten. Was ist besser?

Die Tage der klassischen Tonträger, vor allem der CD, scheinen gezählt. Mit einem Plus von 73,1 Prozent kam das Audio-Streaming 2016 auf einen Anteil von 24,3 Prozent am deutschen Musikmarkt. Tendenz steil steigend. CDs hingegen mussten einen Umsatzrückgang von fast zehn Prozent hinnehmen, Besserung ist nicht in Sicht. Ein gegenläufiger Trend lässt sich beim Vinyl erkennen: Hier liegt die Wachstumsrate bei 41 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Offensichtlich leben Musikfans also in zwei Welten: die einen wollen „nur“ die Musik, die anderen auch etwas in der Hand halten. Eine Generationenfrage? Nicht nur, auch Sammelleidenschaft spielt eine Rolle. Ein Streitgespräch zwischen den Kulturredakteuren Tino Lange (41) und Holger True (55).

Holger True: Tino, Du hörst wahrscheinlich seit dem Kindergarten bewusst Musik, kennst Dich bestens aus, bist ständig auf Konzerten. Jetzt erfahre ich, dass Du keine Platten oder CDs mehr besitzt – alles abgeschafft! Warum denn das? Interessiert Dich Musik nicht mehr?

Tino Lange: Und wie Musik mich interessiert! Ich höre mehr Musik als je zuvor. Überall. Zu Hause, in der U-Bahn, im Auto, im Büro. Ich hab meine Lieblingssongs, und das sind eine Menge, immer dabei. In der Hosentasche: auf dem Smartphone. Ich hingegen habe erfahren, dass Du zu den Retro-Hipstern gehörst, die noch oder wieder Vinylplatten kaufen. Warum gibst Du Unmengen an Geld für schlechteren Klang aus?

True: Also erstens ist der Klang einer Schallplatte häufig einer CD oder gar einer Audiodatei weit überlegen. Hör Dir nur mal das Metallica-Album „Master Of Puppets“ an. Zwischen den Einsen und Nullen auf Deinem Smartphone und der 86er Erstpressung liegen Welten. Aber das ist nur einer von vielen Punkten. Eine Schallplatte ist ein haptisches Erlebnis, das Auflegen ein Ritual, der Genuss bewusst. Das geht nicht so nebenbei wie mit einer Spotify–Playlist, die einfach einen Track nach dem anderen als Hintergrundbeschallung raushaut. Für mich ist Streaming Ausdruck von Beliebigkeit; alles ist da, kostet fast nichts und ist deshalb auch immer weniger wert. Lieber 40 Euro und mehr für zwei Alben ausgeben und die ganz bewusst hören, als für 9,99 Euro Millionen einzelne Songs vor den Latz geknallt bekommen.

Lange: Der Vinylklang ist Einsen und Nullen schon lange nicht mehr nicht überlegen – auch nach rein wissenschaftlichen Messkriterien. Vinyl ist Geraune von Audiophilen über Dynamik- und Frequenzbereiche, die kein Mensch wahrnimmt. Das ist wie bei Rotwein-„Kennern“, denen man auch den Gratis-Lambrusco vom Pizzabäcker unterjubeln kann, wenn das Etikett teuer genug aussieht. Und das haptische Erlebnis von Vinyl mag ja toll sein. Aber ist es nicht blöd, beim Kuscheln alle 20 Minuten aufstehen zu müssen, um die Al-Green-Platte umzudrehen? Und was machst Du bei einer langen Autofahrt oder im Zug? Beim Joggen? Im Büro? Hörst Du da etwa eine CD, die Andrea Berg unter den Tonträgermedien, schillernd, aber steril und in den 90ern stehen geblieben?

True: Für den Alltagsgebrauch dürfen oder besser müssen es natürlich auch CD und Audiodatei sein, privat aber am liebsten Vinyl. Glücklicherweise habe ich nicht wie viele andere mit dem Aufkommen der CD sämtliche Platten verkauft, der Grundstock steht also. Jetzt kaufe ich eigentlich nur noch Vinyl, wenn mir etwas wirklich wichtig ist, gern die limitierte Deluxe-Box, die sich übrigens auch im Regal prächtig macht. Überhaupt, das Sammelfieber … Vermisst Du es nicht, vor dem Regal zu stehen und Dich über die dort versammelten Schätze zu freuen? Oder sorgt jetzt die nächste volle Festplatte für Herzsprünge?

Lange: Ich habe keinen Sammeltrieb, meine Schätze sind die Songs an sich, nicht die Verpackung. Deine Metalalben klingen doch nicht besser durch grauenhafte Albumcover. Ich mag zum Beispiel das „Weiße Album“ der Beatles, aber das Cover ist egal, und das Album ist noch besser ohne „Revolution 9“ und „Ob-La-Di, Ob-La-Da“. Die digitalen Möglichkeiten erlauben es mir (die Künstler mögen es mir verzeihen), das von dir zitierte „Master Of Puppets“ ohne den furchtbaren Song „Leper Messiah“ zu hören. Überhaupt: Playlisten! Früher habe ich stundenlang wie im Film „High Fidelity“ Mixtapes für meine Angebetete aufgenommen, heute kann ich blitzschnell Playlisten und eigene Greatest Hits für jeden Anlass zusammenstellen.

True: Das wird ja immer schlimmer! Du ziehst einzelne Tracks einem kompletten Album mit seiner oft komplexen Dramaturgie vor? Setzt sich natürlich immer mehr durch, aber ich bin froh, dass es da inzwischen auch eine Gegenbewegung gibt, etwa die Reihe „The Art Of The Album“, bei der das Album, auch das Live-Album, als Kunstform gefeiert wird. Für mich gehört ein lauer Song irgendwie dazu. Es scheint ja auch nicht jeden Tag die Sonne.

Lange: Das Live-Album ist ja nun völlig tot, Du Dinosaurier! Wann ist denn das letzte Live-Album mit popkultureller Relevanz erschienen? Ich tippe mal auf Nirvana, „MTV Unplugged in New York“ 1994, und das verkaufte sich auch nur, weil Kurt Cobain ein halbes Jahr vor Veröffentlichung die Flinte ins Korn warf. Aber Ikonen wie „Live/1975-85“ von Bruce Springsteen, die wahrscheinlich einen eigenen Schrein zum täglichen Niederknien in Deinem Keller hat, sind völlig ausgestorben. Nicht von ungefähr finden sich in den „500 besten Alben aller Zeiten“ des „Rolling Stone“ nur 18 Live-Alben. Den kurzzeitigen Trend, nach Konzerten direkt USB-Sticks mit einem Mitschnitt des Abends erwerben zu können, fand übrigens sogar ich befremdlich.

True: Geht mir auch so – obwohl solche Sticks als Andenken an einen unvergesslichen Konzertabend natürlich ihre Berechtigung haben. Kaufen vielleicht sogar Frauen, die ja sonst so gar nicht vom Sammelfieber gepackt zu sein scheinen …

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Streaming-Dienste wie Apple Music oder Spotify werden immer populärer © Getty Images/iStockphoto

Lange: Bist Du Dir da wirklich sicher?

True: Ich kenne jedenfalls keine Plattensammlerin, und als ich vor vielen Jahren meine Diplomarbeit über die Psychologie des Schallplattensammelns schrieb, meldeten sich nach einem Zeitungsaufruf 75 Männer, die von ihrer Leidenschaft erzählen wollten, und eine einzige Frau. Die sammelte mit ihrem Freund zusammen … Das kann viele Gründe haben, aber vermutlich sind Frauen in dieser Hinsicht einfach rationaler, die brauchen keine rare Erstpressung, denen reicht es, die Musik zu hören, Format egal. Vernünftig, aber auch ein bisschen langweilig.

Lange: Jetzt sag ich Dir was: Ich gehe einmal im Jahr in einen Plattenladen und kaufe eine Vinyl-LP. Als Geschenk für eine sehr liebe Freundin, die Platten sammelt. Und letztendlich ist das Format auch egal, Hauptsache, man hat mehr Musik als man in einem Leben hören kann, nicht wahr?

True: Auch wieder wahr.

Lange: Ich habe mir übrigens wieder einen Röhrenfernseher nebst Videorekorder und Filmen auf VHS-Kassette zugelegt. Das war teurer, aber das Bild ist viel besser und wärmer als Blu-Ray auf dem HD-Fernseher oder Netflix ... Scherz!