Hamburg. Beim Pop-Festival in Wilhelmsburg ließen sich die 20.000 Besucher die Stimmung am Wochenende nicht verderben.

Wer entscheidet eigentlich, welche Musik in den Umbaupausen beim Dockville-Festival gespielt wird? Dass vor dem Auftritt der bajuwarischen Weltmusiker LaBrassBanda ausgerechnet der Fettes-Brot-Gassenhauer „Nordisch by Nature“ über den Platz dröhnt, kann man jedenfalls wahlweise als Stichelei, Ironie oder Umarmungsbereitschaft interpretieren. Andererseits interessiert sich das Septett vom Chiemsee für Nord-Süd-Differenzen ohnehin nur dann, wenn sie sich für den eigenen Sound nutzbar machen lassen. Entsprechend passt auch, dass lokalpa­triotischer Hanseatenrap auf die eklektizistische LaBrassBanda-Mischung aus Ska, Funk, Reggae, Hip-Hop und Balkanpop einstimmt.

Wenn sich Sänger Stefan Dettl begeistert über das Dockville-Line-up zeigt, das praktisch jede halbwegs aktuelle Musikrichtung abdeckt, dann ist das kein Rangeschmeiße an ein begeisterungsfähiges Publikum, dann ist das ehrliche Freude über ein weit gefächertes Musikprogramm. In das wahrscheinlich keine Band so optimal passt wie die jenseits jeglicher musikalischer wie geografischer Grenzen existierenden LaBrassBanda.

War früher wirklich alles besser?

Was die große Qualität des dreitägigen Festivals in Wilhelmsburg ist, ist allerdings auch seine Achillesferse. Wo jeder etwas findet, das ihm gefällt, findet auch jeder etwas, was er nicht leiden kann – der Autor dieser Zeilen fühlt sich jedenfalls genervt vom hohen Deutschrap-Anteil, der gerade am Freitag die friedliche Atmosphäre unangenehm mit Testosteron auflädt.

Waren Acts wie Audio88 & Yassin, Ssio, Yung Hurn bei früheren Festivals eigentlich auch derart penetrant? Ja, genau das macht das seit 2007 existierende Dockville ebenfalls aus: das „Früher war alles besser“-Gemotze. Früher war die Musik weniger kommerziell, früher war das Wetter besser, früher war die Bildende Kunst stimmiger ins Festival integriert.

Wobei das natürlich gleichzeitig stimmt und Blödsinn ist. Dieses Jahr spielen als Headliner der australische DJ Flume, die Berliner Elektroniker Moderat und die Kölner Liedermacher Annenmaykantereit – das sind keine Geheimtipps, aber übertriebenes Kommerzdenken muss man bei diesem Line-up trotzdem nicht bemängeln, zumal schon beim ersten Festival 2007 die ebenfalls nicht unbekannten Bands Tocotronic und 2raumwohnung die Abende beschlossen.

Gemeinschaftsgefühl, Exzess und Rausch

Es gab hier – Besucher pro Festivaltag: etwa 20.000 – schon immer eine massentaugliche Schiene, die allerdings gleichwertig neben Unzugänglichem und Abseitigem steht. Die Kunst steht zwar nicht im Mittelpunkt des Festivals, sondern ist mit dem Artville ins Vorfeld ausgelagert, bleibt auf dem Gelände aber durchaus präsent, mit einer raumgreifenden Skulptur des Spaniers Sabek etwa, einer zurückhaltenden, im Verschwinden begriffenen Installation von Wanda Thormeyer oder einer spinnwebartigen Raumbespielung von Ines Fiegert. Und das Wetter, naja. Natürlich ist ein Festival viel reizvoller, wenn man in den romantischen Sonnenuntergang über der Kattwykbrücke blinzelt, statt durchnässt und frierend in einen grauen Himmel zu starren.

Weiterhin schön: die oft übersehenen, kleinen Bühnen. Das konsequent elektronisch bespielte „Nest“ etwa erinnert an die klandestine Rave-Kultur der mittleren Neunziger: Gemeinschaftsgefühl, Exzess, Rausch, Tanz.

Oder die versteckte Tiefland-Bühne, die man nur über schlammige Pfade durchs Unterholz erreicht, wo man zu düster grollendem Elektro mit Pfefferminzlikör belohnt wird. Solche Rückzugsräume muss man als etabliertes Festival erst einmal hinbekommen, zumal parallel immer wieder große und mittelgroße Bands in der Nachbarschaft spielen – zum Beispiel die gefeierten Berliner Von Wegen Lisbeth, deren niedlich-zerbrechlicher Deutschpop allerdings im an dieser Stelle gewollt wirkendem Humor absäuft.

Regentanz bei Hamburger Schmuddelwetter

Ach ja, die Stars. Die Oxforder Indiepopper Glass Animals etwa oder der britische Elektroproduzent Mura Masa. Kann man sich auf den Hauptbühnen durchaus anhören, verschenkte Zeit ist das nicht: Diese Auftritte funktionieren in popindustrieller Perfektion, gehen aber ein wenig am Charme des Dock­ville vorbei. Der besteht nämlich eben nicht darin, gute Rockshows zu glasklarem Sound zu erleben, der besteht darin, das Unerwartete, Abseitige zu entdecken.

Zum Beispiel das New Yorker Duo Sofi Tukker, das Twanggitarre, Elektrobeats und queere Bühnenperformance zu einem reizenden Housecocktail mixt, was den Auftritt zur unerwarteten Offenbarung des Festivals macht, die man nur deswegen mitbekommt, weil man gerade an der Maschinenraum-Bühne verabredet war. Oder die französischen Krautrocker La Femme, die mit Verve gegen regenbedingte Technikprobleme anspielen.

Das Dockville 2017 leidet unter Wetterkapriolen, gleich mehrfach ziehen Gewitterzellen über das Gelände hinweg, es stürmt, es ist kalt. Und vielleicht sind da die bereits genannten Musiker von LaBrassBanda nicht unschuldig – die Bayern animieren das norddeutsch-steife Publikum nämlich unermüdlich zum Tanzen, und als sich die Zuschauer endlich zaghaft bewegen, mausert sich das bis dato vorherrschende Schmuddelwetter zum ausgewachsenen Starkregen. „Nordisch by Nature“: Der Hamburger ist durchaus begeisterungsfähig, aber mit der Feinjustierung klappt das beim Regentanz noch nicht optimal.

Dennoch darf man sich auf nächstes Jahr freuen. Zumindest, falls es ein nächstes Jahr geben sollte. Die Nutzung des Geländes am Wilhelmsburger Reiherstieg ist nämlich alles andere als gesichert – zwar wird es jedes Jahr geraunt, dass die die Örtlichkeiten verwaltende Hamburg Port Authority hier Hafenlogistik ansiedeln möchte, aktuell verfestigen sich diese Gerüchte allerdings bedrohlich.

Und auch wenn das Dockville-Festival seinen Charme aus der Entdeckerfreude zieht, aus dem Ungesichterten, nicht Festgelegten: Ein Festival an einem anderen Ort, ohne die verwunschenen Ecken, ohne die umgebende Hafenarchitektur ist eigentlich unvorstellbar.

Dann nämlich wäre das Dockville ein Festival wie jedes andere.