Hamburg. Das Schleswig-Holstein Musik Festival gratuliert dem Komponisten Philip Glass zum 80. Geburtstag.
Elbphilharmonie, Tag eins nach dem G20-Wahnsinn. Unten auf dem Vorplatz steht noch der eine oder andere Polizeiwagen, als wäre er dort vergessen worden, droben summt sommerliche, bunte Fröhlichkeit, beinahe fühlt sie sich wie Erleichterung an.
Vielleicht ist das ja genau der richtige Tag, dem amerikanischen Komponisten Philip Glass zu seinem 80. Geburtstag – der war im Januar – nachträglich ein Ständchen zu bringen. Denn Glass’ „Minimal Music“, aus welch erlesenen Quellen sich der Stil auch immer speisen mag, arbeitet mit vergleichsweise wenigen Bausteinen, die sich scheinbar unendlich oft wiederholen und dabei immer ein wenig anders verwoben und in den rhythmischen Schwerpunkten verschoben werden. Tonal und gut hörbar ist diese Musik, ihre paar Harmonien schwören das Publikum mühelos auf die beabsichtigten Stimmungen ein und befördern es sanft kreiselnd in Richtung Trance. Was ja nach so einem Wochenende vielleicht nicht der schlechteste Zustand ist.
Für jedermann verständlich: Philip Glass
Die Gratulanten sind das hr-Sinfonieorchester und Hugh Wolff, einer seiner früheren Chefdirigenten. Den Solopart in Glass’ Violinkonzert übernimmt Daniel Hope. Nun ist es mit der Minimal Music ein bisschen wie mit Mozart: Je transparenter die Machart, desto schwerer ist die Musik zu spielen. Das Orchester, als Rundfunkorchester furchtlos im Umgang mit Werken des 20. Jahrhunderts, häkelt die Muster unter Wolffs uneitlem, nüchternem Dirigat säuberlich ineinander, und zwar mit genau der Coolness, die es für das Repetitive dieser Musik braucht. Hope dagegen wirkt von Anfang an nervös und befangen, er stürzt sich in jede der kleinen Figuren auf der Suche nach einem Ausdruck, den bei Glass doch erst das große Ganze bringen kann.
Der Solopart verschmilzt immer wieder mit dem Tutti, da sind romantische Schluchzer fehl am Platze. Leider greift Hope öfter daneben, oder er eilt dem Orchester davon – selbst wenn das Absicht wäre, wonach es nicht klingt, stünde die Freiheit dazu dem Solisten bei diesem mit geradezu digitaler Ebenmäßigkeit ineinandergefügten Werk nicht zu. Natürlich verfehlt das Ganze seine Wirkung trotzdem nicht – Trance ist doch was Kuscheliges, und wer sie mit Langeweile verwechselt, der ist ein Schelm.
Hope quittiert den begeisterten Applaus
Außerdem ist Hope ein netter Kerl, er quittiert den begeisterten Applaus: „Moin, moin, Hamburg! Schön, dass Sie die letzten zwei Tage überstanden haben.“ Und gibt dann ein Stück zu, das er dem Andenken an Sir Jeffrey Tate widmet, dem vor wenigen Wochen gestorbenen Chefdirigenten der Symphoniker Hamburg: „Kaddish“ für Violine solo von Maurice Ravel, eine jüdische Totenklage, die, von einem Bezugston ausgehend, immer wieder Arabesken beschreibt. Und da, in der melodiös bewegten Melancholie, ist Hope hörbar in seinem Element mit dem vollen, süßen Ton seiner Guarneri-Geige.
Bei Glass’ „Low Symphony“ nach der Pause ist es erst richtig zu fühlen, wie glücklich sie die Menschen macht, wie die Breitbandmelodien, zu denen sich Glass von den Rockmusikern David Bowie und Brian Eno inspirieren ließ, sie rühren. Applaus nach jedem Satz könnte in Zeiten der Elbphilharmonie zum Standard werden. Keiner zischt ihn nieder. Im Gegenteil, der Dirigent Hugh Wolff dreht sich zwischendurch um und bedankt sich mit einer freundlichen Geste, die zugleich ankündigt, dass es noch weitergeht.
Glass’ Prinzip, mit den Mitteln der sogenannten klassischen Kompositionsweise Material aus der Popmusik zu verarbeiten, geht hier voll auf. Eine Trennlinie zwischen beiden Genres ziehen zu wollen, wäre ebenso vergeblich wie künstlich. Die Einheit ist ein faszinierendes Plädoyer, wenn nicht gleich der klingende Beweis für die Unsinnigkeit der alten Unterscheidung zwischen der sogenannten E- (wie „ernster“) und der sogenannten U- (wie „Unterhaltungs-“)-Musik.
Zugleich hat Glass den Soundtrack der amerikanischen Landschaft geschrieben. Wer könnte umhin, sich bei den schmerzlich-süßen Bläserkantilenen über wogenden Streichermotiven unendliche Weizenfelder vorzustellen und weit hinten einen Nachtzug auf dem Weg ins Irgendwo?
Verlieren möchte man sich in diesen Klängen
Zu Beginn des Abends haben sich die Musiker in Ravels Tondichtung „Une barque sur l’océan“ mit dem Bötchen aufs offene Meer begeben. Interessant, wie Ravel, wenn auch ganz anders als Glass, statt des Erzählenden das Flächige, Malende betont, wie er Gischt und Wellen in Triller und Girlanden fasst, wie er Harfe und Klarinette einander in funkelnden Tonketten antworten lässt. Sicherlich, wenn das Bötchen in schwere See gerät, gipfelt das Blech schon mal zu gleißenden Akkorden auf. Doch den wahren Klangzauber entfalten die Musiker in ungezählten Piano-Schattierungen, und die Akustik tut natürlich das Ihrige dazu. Die Spannung im Saal ist greifbar.
Selbst wo die Musiker fast ins Nichts zurückfallen, ist da noch Atem, musikalische Gestalt. Verlieren möchte man sich in diesen Klängen, nie wieder daraus auftauchen. Und auch wenn Ravel sich, anders als Glass, einer ausgemacht raffinierten Harmonik bedient: Hier treffen sich die beiden, über die Jahrzehnte und Stile hinweg.