Hamburg . Die Britin inszeniert im Malersaal des Schauspielhauses „4.48 Psychose“, das letzte Stück der Dramatikerin Sarah Kane.

Niemand weiß es besser als Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier: Katie Mitchell ist die Regisseurin der Stunde. Mit der Britin verbindet sie eine langjährige Freundschaft, die bis in beider Anfänge als junge Regisseurinnen zurückreicht, sowie ein tiefer künstlerischer Respekt. Seit Beier Intendantin ist, arbeitet Mitchell regelmäßig auch am Schauspielhaus. In Hamburg zählten „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“ von Martin Crimp und zuletzt „Reisende auf einem Bein“ von Herta Müller zu den bislang herausragenden Produktionen.

„Was mich an ihr als Regisseurin besonders fasziniert, ist, dass sie einerseits eine klare Handschrift entwickelt hat, andererseits die Grenzen dessen, was Theater ist und sein kann, immer wieder neu auslotet“, sagt Karin Beier. „Die Art und Weise, wie sie mit den Medien spielt – mit Sound, Video, Bühne –, das ist schon ziemlich einzigartig.“

Langjähriges Wunschprojekt

Mitchells neue Arbeit, Sarah Kanes „4.48 Psychose“, die am Freitag im Malersaal des Schauspielhauses Premiere hat, ist ein langjähriges Wunschprojekt der Regisseurin. „Ich wollte das Stück seit 1999 inszenieren, aber es gab keine Gelegenheit, weil es dauernd überall gespielt wird.“ Die britische Dramatikerin Sarah Kane, die an depressiven Schüben litt, nahm sich 1999 mit 28 Jahren in der Psychiatrie das Leben. Zuvor hatte sie mit drastisch existenzialistischen Texten wie „Zerbombt“ die dramatische Szene aufgeschreckt und für sich eingenommen. Bis heute gilt sie als eine der wichtigsten Autorinnen der Gegenwart.

„Dieses Stück ist ein Meisterwerk“, sagt Katie Mitchell, die Kane gut kannte. „Es trägt so viel in sich. Es ist wirklich schwer, das zu erarbeiten, dieses Bewusstsein am Rande des Todes. Ich möchte es gewissermaßen als Weg erzählen, die Frage stellen, wie sich das anfühlen würde, all diese Gedanken im Kopf zu haben.“ Kanes fiktive, formal exakte Prosa mischt sich mit persönlichem Erleben in der Psychiatrie. „Das Schlimmste ist diese entsetzliche Einsamkeit, wenn man ohne Hoffnung ist. Sie wollen wir versuchen zu zeigen“, ­erläutert Mitchell.

Europäisch und feministisch

Für Mitchell war Kane ihrer Zeit voraus, sie begriff sich als europäisch und feministisch, nahm Sexualität in ihrer Komplexität vorweg. Außerdem war sie hochsensibel. Das zeigt sich an der Beschreibung der gesteigerten Wahrnehmung eines depressiven Menschen in „4.48 Psychose“, die Mitchell als „ein schreckliches Privileg“ empfindet.

Die Inszenierung erarbeitet sie nur mit Spiel, Bühnentechnik und Sound, nicht mit dem technisch hochkomplexen Live-Kino-Theater, für das sie auf der großen Bühne bekannt ist. Niemals aber würde sich Mitchell deswegen als Filmemacherin bezeichnen. „Die Qualität der Filme ist dadurch begrenzt, dass wir sie live herstellen. Sie würden nicht allein als Film im Kino bestehen, sondern leben durch den Kontrast mit der Bühne.“

Von der Kunst Osteuropas geprägt

Gedanken mit der Kamera sichtbar machen, das will Mitchell, seit sie Virginia Woolfs experimentelles reines Denkstück „Die Wellen“ inszenierte. „Wir haben Video benutzt, um in die Köpfe und Gedanken zu gelangen. Von da aus ist es gewachsen. Schließlich haben wir ganze Film-Sets gebaut. Im Theater ist man weit weg von der Figur, die Kamera holt sie dir heran.“

An ihrem realistischen, psychologischen Stil sind Mitchells Vorbilder erkennbar. Die Regisseurin bekennt sich dazu, schon in ihrer Ausbildung von der Kunst Osteuropas geprägt worden zu sein. Von dem Theatermacher Konstantin Stanislawski und von Filmemachern wie Andrei Tarkowski, aber auch von Michelangelo Antonioni und Ingmar Bergman.

Mitchell ist detailversessen

Eine weitere lange Arbeitsbeziehung verbindet Katie Mitchell mit Ensemblemitglied Julia Wieninger. Sie trägt den Monolog in „4.48 Psychose“ vor, den langen Bewusstseinsstrom einer Frau, die jeden Morgen um diese frühe Uhrzeit erwacht und ihre wenigen klaren, nicht medikamentös benebelten Momente in der Psychiatrie erlebt, zugleich aber auch ihren Dämonen in aller Klarheit und Schärfe begegnet. „Julia Wieninger bewältigt komplexe technische Dinge und kann gleichzeitig eine großartige Tiefe geben“, sagt Mitchell. „Wir arbeiten beide sehr präzise und lieben Details.“

Die Inszenierung soll so wahrhaftig wie möglich werden. Mitchells Detailversessenheit und Präzision zeigt sich auch darin, dass sie im Probenprozess sogar Psychiater konsultierte und zu einem Durchlauf einlud, um zu beurteilen, ob jener unheimliche Zustand, bevor sich jemand aus der Welt verabschiedet, auch korrekt dargestellt ist.

Umstrittene Inszenierung von „Gesäubert“

Die Britin arbeitet seit Jahren international und häufig in Deutschland. Seit dem Brexit-Votum fühlt sie sich umso mehr als Europäerin. Immer wieder sucht sie Partner für Koproduktionen, inszeniert aber auch weiterhin in ihrer Heimat. Zuletzt hat sie eine umstrittene Inszenierung von „Gesäubert“, ebenfalls von Sarah Kane, in London herausgebracht. Fünf männlichen Zuschauern war ihr Bühnennaturalismus zu viel, sie fielen in Ohnmacht. Sie hätten kein Blut sehen können, sagt Mitchell noch immer überrascht. Blut wird es im Malersaal nicht geben. Unter die Haut gehen wird es ganz sicher.

„4.48 Psychose“ Premiere Fr 24.3. (ausverkauft), dann Mo 27./Di 28.3. + Do 30./Fr 31.3., jew. 20.00, Malersaal (U/S Hbf.), Kirchenallee 39, Restkarten zu 22,- unter T. 24 87 13