Hamburg. In Christoph Marthalers Version des legendären Opernfragments verhungern die Männer am langen Arm der ewigen Femme fatale.

Alle Kerle in dieser Oper fackeln nicht lange und halten sich auch nicht mit Kleiderordnung auf: Sie kommen ohne Anzughosen, untenrum allzeit bereit, weil diese heißkalte Rotblonde, die sie alle nur für sich wollen, in Übergriffigkeitsnähe ja nur darauf wartet. Denken sie jedenfalls.

Christoph Marthaler kennt sich aus mit den Trieben und Wünschen der Männer, erst recht denen der unglücklichen und noch viel mehr den Wünschen jener, die diese nur ungeschickt verdrängen. Seine Inszenierungen stehen voll mit denen, die als Würstchen am Rande des Nervenzusammenbruchs durch Spießer-Leben schlingern. Deswegen womöglich ist Marthalers „Lulu“ eben keine wollustdampfende Femme fatale mehr, der man ihr Femmefatalesein sofort an den Dessous ansähe. Zu einschüchternd wäre das.

Sie ist eher die gelenkige Nachbarin in Bademantel und Totenkopf-T-Shirt, die sich fast immer verweigert und offenbar eher auf rhythmische Sportgymnastik statt auf Table Dance steht. Die Frau von nebenan, deren Körpersprache nur „Och ... nö ...“ signalisiert, während sie sich schon um den nächsten „Schnodderlumpen“ wickelt und dabei, per Beinschere kopfüber hängend, auch noch großartig ihre höllenschwere Partie singen, gurren und mit funkelnden Spitzentönen krönen kann.

Diese Lulu dirigiert die Männer mit nervösen Fingergesten, sie lässt sie am ausgestreckten Arm verhungern. Eine flatternde Hand genügt da. Die unsichtbaren Marionetten-Fäden sind reißfest. Und jeder einzelne dieser Männer, vom manisch durchdrehenden Matthias Klink (als Alwa) über den fein schmierlappigen Schigolch von Sergei Leiferkus, den aufgepumpten Athleten von Ivan Ludlow bis zur brutalen Biestigkeit von Jochen Schmeckenbecher als Jack, ist punktgenau besetzt und clever ins Handlungsgeflecht verwoben, das Marthaler elegant um einige Details entschlackt hat.

Barbara Hannigan begeistert gefeiert

Barbara Hannigan – am Ende der einhellig bejubelten Staatsopern-Premiere besonders begeistert gefeiert – ist für sie alle diese verwirrend widersprüchliche Lulu, die Lust und Launen auslebt, ist Zentrum einer Varieté-Bühne, auf, vor und hinter der das Ein-Frauen-Drama abläuft. Nie verschleiert, immer offenkundig. Hannigan ist eine Idealverkörperung, ein Traum von „Lulu“-Darstellerin und eine grandiose Präzisions-Sängerin. Sie ist das spröde, hell glimmende Zentralgestirn dieser sonderbaren Inszenierung von Alban Bergs unvollendet gebliebenem Meisterwerk. Alles steht und fällt mit ihr.

Gut 13 Jahre nach Peter Konwitsch­nys nur zweiaktiger Version, vor der Ingo Metzmacher Teile der „Lulu“-Suite als Soundtrack der am Ende ungezeigten Ermordung Lulus dirigiert hatte, passiert nun aber das genaue Gegenteil. Generalmusikdirektor Kent Nagano und Marthaler, deren Sichtweisen sich bei dieser Produktion bestechend gut ergänzen, ließen nicht nur die unorches­triert gebliebenen Teile des dritten Akts durch zwei Klaviere und eine hinein arrangierte Solo-Violine als handliches Spielmaterial für eine Bühnen-Bühnenprobe vor zusehendem Publikum ablaufen.

Sie verlängerten Bergs Dreiakter-Original auch über sein Fragment-Ende hinaus, mit einem Konzept, das sich zwar durch die Biografien von Stück und Komponist ableiten lässt, aber dennoch wie eine Extra-Grabplatte für die gemeuchelte Schöne wirkt. Wie ein Bonustrack, den es nicht zwingend gebraucht hätte, wie eine Prise Dramaturgie-Glutamat.

„Lulu, mein Engel“, singt die als Mireille-Mathieu-Matrone verpackte Gräfin Geschwitz ihrer unerreichbaren Lebensliebe Lulu im London-Bild des dritten Akts hinterher. Und nachdem beide Frauen dort von Jack the Ripper getötet wurden, betritt die Geigerin Veronika Eberle die leere Charakterschweine-Manege der ersten Akte und spielt, vom Leiden dieser überirdisch schönen Musik bis tief ins Herz durchdrungen, Bergs Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“, das Berg während der Arbeit an „Lulu“ komponierte. Lulu, auferstanden und selig lächelnd, und vier züchtig gekleidete Schwestern im Geiste prozessieren dazu in Zeitlupe und fingerspitzenzappelnd hierhin, dahin, dorthin und weil es kurios anzusehen ist, bis sich nach ihrem letzten Ton die Solistin zu ihnen gesellt.

Verfall der Erzählstruktur

Diesem letzten Verfremdungseffekt voran ging der immer deutlicher werdende Verfall der Erzählstruktur. Begonnen hatte Marthaler stückkonform und harmlos, von der einleitenden Zurschaustellung der Charaktere bis zur dröhnenden Großmäuligkeit der angeblich so hohen Herren. Je steiler es bergab ging mit den Männern, desto mehr marthalereske Momente kamen ins Guckkasten-Bühnenbild: das von Anna Viebrock gedrechselte Treppenhaus im zweiten Akt, durch das gern mal eigentümliche Gestalten schlichen.

Die Eruptionen des Abstrusen, wenn es jemanden kurz, aber heftig in seinem Lebenskäfig durchschüttelte, oder wenn die Herren wie bei „Väter der Klamotte“ im Salon herumtigerten, weil sie nicht weiter wussten, ob mit sich oder ohne Lulu. Im letzten Akt ist fast alles nur noch Fassade, Behauptung, weil auch Lulu beim Anschaffengehen nur noch behauptet. Auf dem blutroten Pullover von Jack the Ripper steht noch zynisch „Allright“, während Lulus letztes bisschen kaputte Welt schon längst aus den Fugen ist.

Achterbahnfahrt durch die Gefühle

Dafür hält Nagano im Graben die Fäden gewissenhaft in der Hand. Sein Berg-Klang ist eine Achterbahnfahrt durch die Gefühle mit Servo-Lenkung, sicher in der Spur, mit klarem Kopf gelenkt, ohne sich aufs analytische Durchbuchstabieren zu beschränken. Mitreißend oder überwältigend ist diese „Lulu“ nur stellenweise, doch die feingeistige Balance zwischen den Extremen hat ihren Reiz. Das Rätsel Lulu wird gestellt und enthüllt, bleibt aber ungelöst. Das ist nicht das Schlechteste, was man von einem Abend mit dieser Oper behaupten könnte.

Weitere Termine: 15./18./21./24.2., 19.00 Uhr, Karten (6 bis 97 Euro) unter T. 35 68 68