Hamburg. Kent Nagano nutzte die Gelegenheit, um sich kurz vor dem Umzug in die Elbphilharmonie noch einmal zur alten Konzerthalle zu bekennen.
Mehr als anderthalb Jahrzehnte ist es inzwischen her, da hatte ein hochmotivierter Hamburger Generalmusikdirektor eine für hiesige Verhältnisse geradezu abenteuerliche Idee: Silvesterkonzerte, die nicht gestrig oder halbherzig lauwarm daherkommen sollten, mit Programmen weit jenseits der oberflächlich hübschen Eingängigkeiten und mit Beethovens Neunter als Böller-Begleitopus schon gleich gar nicht.
Ingo Metzmacher stellte sich auf die Bühne im Großen Saal der Laeiszhalle, bis zu diesem Moment war das Sortiment eine geheim gehaltene Überraschung, danach Jahr für Jahr ein Publikumsrenner. Danach kam Simone Young ins Amt, die diesen speziellen, geerbten Konzerttermin am Jahresende gern auch dafür nutzte, den Geburtstagskalender nach fälligen Komponisten und mehr oder weniger gefälligen Raritäten zu durchkämmen.
Nagano: "Wir lieben die Laeiszhalle trotzdem"
Jetzt allerdings, keine zwei Wochen mehr vor dem epochal wichtigen Einzug des städtischen Musiklebens in die Elbphilharmonie, kam Kent Nagano am Silvestermorgen zum letzten Mal für dieses Format dort auf die Bühne des Großen Saals der Laeiszhalle – und dirigierte Bach als Erstes und Mozart als Letztes. Und der aktuelle Philharmoniker-Chefdirigent sagte bei einer Zwischenmoderation, fast trotzig, als Kontrapunkt zur mehr als riesigen Vorfreude auf die riesigen musikalischen Möglichkeiten und kulturpolitischen Aufgaben der Elbphilharmonie: „Wir lieben die Laeiszhalle trotzdem.“
Auch eine Ansage, und keine unwichtige. Vor allem aber eine Haltung, die man wertkonservativ nennen kann und die signalisieren sollte: Es gibt sie, bei allem Blick nach vorn, die große, gute, wichtige Musik, und mitunter kommt sie von den Komponisten aus der Vergangenheit, die nun wirklich jeder kennt. Der Amerikaner Nagano hätte, in diesen „dunklen, problematischen Zeiten“ an dieser Schwelle zu einem neuen Jahr, auch „The Unanswered Question“ des schrulligen Amerikaners Charles Ives spielen lassen können, staunend, ratlos, drei Wochen, bevor tatsächlich Donald Trump ins Weiße Haus einziehen soll.
So etwas wäre als Gourmet-Anspielung sicher interessant, aber Nagano wohl zu plakativ und zu frontal gewesen. Stattdessen begann er sein Konzert mit der Bach-Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“. Beim Blick über den Tellerrand, in Richtung geistiger Horizont, hatte Bach da keinen Unterschied gemacht.
Hören konnte nicht immer alles
„Wir sind dankbar, dass wir Musik haben“, würde Nagano später dezent und diplomatisch das derzeitige weltpolitische Tagesgeschehen kommentieren. Den Rest konnte und sollte man sich tunlichst denken. Hören konnte man ihn in der ausverkauften Laeiszhalle nicht immer, denn trotz der eher kleinen Besetzung blieb etwas unklar, welches klangästhetisches Ziel Nagano für Bach im Sinn hatte; ihm ging es wohl vor allem um moralische und weniger um historische Informiertheit beim Umgang mit feierlich andächtigem Barock und dem Umgang mit derart existenziellen Themen. Christina Gansch als Solo-Sopran wusste hier ebenfalls noch nicht so recht, wohin mit sich in dieser wohlfeil präsentierten Musik. Sie bewies ihre Klasse und stimmliche Passgenauigkeit eindeutig erst später, in der Mozart-Motette „Exsultate, jubilate“.
Ein harter, aber notwendig guter Kontrast dazu waren die zwei Stück dazwischen: zunächst Arvo Pärts Achtsamkeits-Etüde „Spiegel im Spiegel“ für Violine und Klavier, duftkerzig tröstende Musik, in der Konradin Seitzer seine Melodielinien über die Zeitlupen-Akkordbrechungen des Flügels seufzen ließ, als wären es Paulo-Coelho-Vertonungen. Warum die Russin Galina Ustwolskaja das siebenminütige, 1988 uraufgeführte „Gebet“ für Alt, Trompete, großes Tamtam und Klavier als „Sinfonie“ in ihren klitzekleinen Werkkatalog einsortierte, bleibt – wie fast alles in dieser kompromissfreien, scharfkantigen Musik – ihr streng gehütetes Geheimnis.
Vom Denken dieser Künstlerin aufs Äußerste gefordert zu werden, erst recht unmittelbar nach Pärt, ist eine Anstrengung, die Nagano klug dosierte. Der leuchtend angedunkelte Alt von Nadezhda Karyazina machte dieses kurze Wechselbad der Gefühle zu einem Erlebnis, das die vielen Ustwolskaja-Ersthörer im Publikum so schnell nicht vergessen dürften.
Nach der Pause wurde es durchgängig interessant
Bis zur Pause war es eher eines dieser Mal-so-mal-so-Konzerte gewesen, danach machte es Nagano aber doch noch durchgängig interessant. Mozart, ganz später Mozart, die Es-Dur-Sinfonie KV 543. Und interessant wurde es, weil Nagano die ganz sichere Erfolgs-Nummer nicht liefern mochte. Dieser Mozart hatte etwas Suchendes, Ungeklärtes. Die Tempi und die brillante Brisanz wurden nicht voll und rasant ausgereizt, aber gerade genügend angedeutet, um es sich nicht im Bekannten zu bequem zu machen. Das Tutti hielt Distanz zu einem süffigen Gesamtklang und strengte sich lieber an, Mozarts einfache Zaubereien auf einem Stecknadelknopf nicht komplizierter zu machen, als sie ohnehin schon sind.
Und da Mozart dem Abschluss des Finalsatzes seine Eindeutigkeit vorenthielt, hatte Nagano eine schöne symbolische Geste gefunden, um einen Haken ans Gewesene zu machen, ohne kategorisch vorwegzuempfinden, wie es 2017 weitergeht.