Hamburg. Die Elbphilharmonie sorgt in der Kultur für faszinierende Startbedingungen – am Ende könnten alle von ihr profitieren.

„FERTIG“ stand da unübersehbar in leuchtend riesigen Lettern an der Fassade der Elbphilharmonie, als sie im Herbst offiziell an die Stadt übergeben wurde. Und das war natürlich ein wunderschön anzusehender Trugschluss. Fertig? Von wegen! Es fängt gerade erst an.

Dass jedem Anfang ein Zauber innewohnt, fand Hermann Hesse, und er empfahl auch gleich, man solle „heiter Raum um Raum durchschreiten“, vermutlich ohne dabei so ganz konkret die neuen Räume der Elbphilharmonie mit ihrem Großen und dem Kleinen Saal, der Plaza, den Foyers und Kaistudios vor Augen zu haben, die vom 11. Januar 2017 an in voller Pracht der ganzen Öffentlichkeit zugänglich sein werden (so man sich rechtzeitig um Karten bemüht hat). Und womöglich war dem Herrn Hesse auch die Angst vor dem weißen Papier nicht ganz so vertraut wie vielen seiner Künstlerkollegen, die ihm seine lästige Besserwisserei gern jedes Mal aufs Neue um die Ohren hauen würden.

Jetzt ist das Fieber der Vorfreude da

Anfangszauber? Wer sich je an einen ersten Romansatz wagte, sich je zur ersten Theaterprobe traf, den ersten Strich einer Zeichnung auf die Leinwand tastete, den ersten Ton einer Sinfonie notierte, der dürfte die dafür zunächst notwendige Leere bisweilen lautstark verflucht haben. Nicht Schreiben ist schön, geschrieben haben ist schön, hat ein kluger Mensch einmal gesagt. Denn in jedem Anfang steckt Verheißung – aber manchmal, nahezu untrennbar, eben auch Furcht.

Bleiben wir bei der Verheißung

Kann es für ein Hamburger Kulturjahr faszinierendere Startbedingungen geben als 2017? Ein Jahr, in dem viele Hamburger am Ende mindestens einmal ein klassisches Konzert besucht haben werden, die das vielleicht niemals zuvor getan haben. Jetzt ist das Fieber der Vorfreude da, und noch immer zeigt die Kurve steil nach oben, und noch immer lässt die Ansteckung nicht nach. Weil das Bauwerk so sehr entzückt oder der Hype so sehr greift und damit die Sorge, zu verpassen, wovon Nachbarn, Kollegen, Freunde schwärmen – oder schlicht, weil Mutti diesmal rechtzeitig vor Weihnachten gefunden hat, och, so’n büschn Kultur, das kann ja nun nicht schaden. Selten dürften so viele Eintrittskarten unterm Christbaum gelegen haben wie diesmal.

Das ist so eine Sache mit dem Blutlecken

Was das jedoch für die anderen bedeutet? Die großen und die kleinen Theater, die ja auch ihr Publikum brauchen, die strahlende Laeiszhalle, die ja trotzdem kein Verfallsdatum hat, die Museen, Galerien, Kinos, Clubs? Auch hier gilt: Die Verheißung kommt weit vor der Furcht. Der berühmte Amazon-Algorithmus („Wer dies gekauft hat, fand auch jenes prima“), könnte auch hier greifen: Wen als Tourist die Elbphilharmonie nach Hamburg lockt, der wird auch einen Abstecher ins Museum machen. Wer den Klang im coolen neuen Saal erlebt hat, der wird womöglich mit der altehrwürdigen Laeiszhalle vergleichen wollen. Es ist die Sache mit dem Blutlecken. Schon klar, nicht alle, die nun einmal im Leben Konzertkarten ergattert haben, werden auf ewig bekehrt. Aber manche, doch, manche werden dasitzen wie einst Julia Roberts mit Richard Gere in „Pretty Woman“, als ihr beim ersten Operndate vor lauter Überwältigung die Tränen rinnen. Überwältigt ist sie von der Musik, nicht von ­Richard Gere, wohlgemerkt.

Das Schleswig-Holstein Musik Festival ist zu Gast

Die Inspiration, das unbedingte Dabei-sein-Wollen (mindestens, um irgendwann wieder dagegen sein zu können) werden alle, die selbst Kunst machen (lassen), in den letzten Monaten gespürt haben. Clever waren die, die sich im Hamburger Kulturjahr so platziert haben, dass sie das elbphilharmonische Scheinwerferlicht auch ein bisschen streift: das Elbjazz-Festival zum Beispiel, das im vergangenen Jahr noch ausfallen musste, für diesen Sommer aber verspricht, jedem Kartenbesitzer auch einen Besuch in der vollendeten Schönen am Hafen zu ermöglichen. Das Schleswig-Holstein Musik Festival, das im Februar sein Programm vorstellt und zwischen Anfang Juli und Ende August gleich mit acht Konzerten in der Elbphilharmonie zu Gast sein wird, davon sieben Konzerte im Großen Saal. Und nicht zuletzt natürlich das internationale Großfestival „Theater der Welt“, das im Frühsommer Station in Hamburg machen wird.

Gleich zwei Hamburger Intendanten (Joachim Lux vom Thalia Theater und Amelie Deuflhard von Kampnagel) sind, gemeinsam mit Sommerfestival-Chef András Siebold und Thalia-Dramaturgin Sandra Küpper, im vergangenen Jahr rund um den Globus gereist, um starke Produktionen aufzuspüren und an die Elbe zu laden. Aus Afrika und Australien, aus Asien und Südamerika, Performance, Theater, Tanz. Gespielt wird im Thalia und auf Kamp­nagel, aber auch in einem alten Kakaospeicher im Hafen – und natürlich, wie könnte es anders sein, in der Elbphilharmonie, wo das katalanische Theaterkollektiv Fura dels Baus seine Musiktheaterproduktion „Schöpfung“ zeigt.

Man vertraut voll und ganz auf den Verstärkungseffekt

Sorge, dass die Kulturbudgets der Hamburger begrenzt sind und bereits zur Gänze in elbphilharmonische Konzertkarten investiert wurde? Gibt es höchstens theoretisch. Das „Theater der Welt“ vertraut voll und ganz auf den Verstärkungseffekt der Elbphilharmonie. Verheißung statt Furcht! Mut zum fortwährenden Neustart, Lust auf Schöpfung, das große Los, die kühne Bereitschaft auch zum Scheitern, die ja immer schon ein existenzieller Kern der Kunst – und erst recht der flüchtigen Bühnenkunst – war.

Das Blatt ist weiß, die Leinwand jungfräulich, das neue Jahr steht bereit. Und diese Stadt auch.

„Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,/Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen“, schreibt Hesse. Wohlan: Wenn Hamburg wirklich das Tor zur Welt ist, dann war die Chance nie größer, es genau jetzt weit aufzureißen und mal ordentlich durchzulüften.

„FERTIG“? Hoffentlich nicht!