Hamburg. Ausgangspunkt von Mechtild Borrmanns Roman sind die „Trümmermorde“, die 1947 in Hamburg tatsächlich stattfanden.
Mitten im eisigen „Hungerwinter“ 1946/47 suchen der 13jährige Hanno Dietz und seine Schwester Wiebke auf einem Trümmergrundstück in Hamburg-Borgfelde nach Feuerholz und Altmetall – das bringt auf dem Schwarzmarkt etwas ein. Womit Hanno nicht rechnet, ist eine Leiche: eine junge Frau, nackt und offenbar schon gefroren. Neben Wiebke steht plötzlich ein etwa dreijähriger Junge in einem teuren Kindermantel, mutterseelenallein in der Einöde. Gehörte er zu der Frau? Sie nehmen ihn mit in ihre zerbombte Unterkunft und nennen ihn Joost. Der Kleine erholt sich langsam. Aber er spricht nicht.
Erst allmählich entfaltet Mechtild Borrmann in ihrem neuen Roman „Trümmerkind“ das Schicksal des Findlings. Aus drei Handlungssträngen und Zeitschienen knüpft sie eine Familiengeschichte, die in den Kriegswirren so oder ähnlich hätte passieren können. Es geht um die Flucht einer Gutsbesitzerfamilie aus Ostdeutschland, um das Überleben, um Schweigen und die Suche nach der eigenen Herkunft – und um alte Schuld. Ausgangspunkt aber sind die „Trümmermorde“, die im Januar und Februar 1947 in Hamburg tatsächlich stattfanden.
Eine Hamburger Mordserie mit vier Opfern, die nie aufgeklärt wurde
Die Opfer – ein etwa 18jähriges Mädchen, ein alter Mann, ein Kind und eine etwa 30 Jahre alte Frau - waren unbekleidet und erdrosselt worden. Auffällig war damals ihr gepflegter Allgemeinzustand - in einer Stadt mit tausenden Flüchtlingen, Ausgebombten und „Displaced Persons“, in der nichts mehr funktionierte. Eine Hamburger Mordserie mit vier Opfern, die nie aufgeklärt wurde.
„Mich hat es sehr berührt, dass die Opfer nie identifiziert worden sind“, sagt Mechtild Borrmann im Gespräch. „Dabei hat die Polizei damals sehr viel unternommen, unter anderem hat sie 50.000 Plakate und Handzettel gedruckt und in allen vier Besatzungszonen verteilt, um die Herkunft der Opfer zu ermitteln.“ Trotz einer ausgesetzten Belohnung in Höhe von 5000, später 10.000 Reichsmark und eintausend Zigaretten blieb die Identität der Opfer unbekannt. „Das hat mich nicht mehr losgelassen“, sagt Borrmann. „Meine Idee war, diesen Menschen eine Identität zu geben, wenn auch nur eine fiktive.“
Borrmann recherchierte intensiv im Hamburger Staatsarchiv
Mechtild Borrmann verwebt in ihren Romanen gern mehrere Zeitstränge. Schon in „Wer das Schweigen bricht“, ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimi Preis, geht es um die Entwirrung eines Kriegsschicksals, auch in „Der Geiger“ und „Die andere Hälfte der Hoffnung“ befasst sie sich mit den Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs. Für „Trümmerkind“ recherchierte sie intensiv im Hamburger Staatsarchiv, fand im Mahnmal St. Nikolai eine alte Hamburg-Karte mit allen zerstörten Straßen. Sie reiste durch die Uckermark auf der Suche nach einem Vorbild für den Roman-Gutshof, sprach mit Zeitzeugen. „Einen Whodunnit-Krimi wollte ich aber nicht schreiben“, sagt sie. „Mir ging es mehr darum, die Zeit zu schildern und zu beschreiben, wie das Leben und der Alltag in verschiedenen Besatzungszonen ausgesehen haben.“
Nicht zuletzt geht es auch um Verantwortung. Zum Zeitpunkt der Trümmermorde wurde im Curio-Haus den sieben Aufseherinnen im Lager Ravensbrück der Prozess gemacht (der am Rande des Romans eine Rolle spielt). Viele ehemalige Täter und Helfer wurden allerdings nie zur Rechenschaft gezogen. Jetzt sterben die Zeitzeugen allmählich aus, und mit ihnen so manche Lebenslüge über die NS-Zeit.
In den Nachkriegsjahren haben sich (und wurden) nicht wenige Biografien verwischt, die Kriegsgeneration hat wenig geredet. Das hat Borrmann gereizt, damit spielt sie. „Ich habe schon bei ‘Wer das Schweigen bricht’ festgestellt, dass es offenbar diese Zeit des großen Schweigens hat geben müssen, dass es erst allmählich aufbricht“, sagt sie.
Glaubwürdig gezeichnete Figuren
Ihre Protagonisten sind als Erwachsene in den 1990er Jahren die Erben des (Ver-)Schweigens. Das Trümmerkind Joost, inzwischen Rechtsanwalt, kann sich manche Erinnerungen aus frühester Kindheit nicht erklären. Protagonistin Anna stößt immer wieder auf eine Wand, wenn sie ihre Mutter nach der Flucht aus der Uckermark fragt. Warum? Für beide ist die Lücke in der Vergangenheit auch ein Loch in ihrer Identität.
„Obwohl die NS-Zeit und die Kriegsereignisse 70 Jahre zurückliegen, spielen sie bis in die heutige Zeit eine Rolle“, sagt Borrmann. „Dass das vorbei ist und man es einfach abschließen kann, glaube ich einfach nicht. Untersuchungen zeigen, dass gerade dieses lange Schweigen und Verschweigen sich irgendwann Bahn bricht, dass Eltern diese Haltung auf ihre Kinder und deren Kinder übertragen, dass so ein Familiengeheimnis weitergetragen wird und bis heute wirkt.“
Dass Mechtild Borrmann mit ihren Romanen viele Leser findet, liegt sicher auch an ihrer anschaulichen Sprache und an den sehr glaubwürdig gezeichneten Figuren. „Trümmerkind“ liest man gerne, und nicht nur, um zu erfahren, wer dieser Joost nun wirklich ist.
Lesung mit Mechtild Borrmann am 2. Januar 2017 im Büchereck Niendorf Nord, 19.30 Uhr, Nordalbingerweg 15, Eintritt 8 Euro