An den Hamburger Kammerspielen hat „Mein ziemlich seltsamer Freund Walter“ Premiere. Ein Spektakel mit viel Musik und ernstem Thema.

Sibylle Berg und ein Kinderstück – das scheint auf den ersten Blick schwer zusammenzugehen. Sitzt man aber im dunklen Theaterraum, während vorne auf der Bühne in „Mein ziemlich seltsamer Freund Walter“ die Figuren um ein Stück Glück ringen, sind die typischen Berg-Motive unverkennbar. Für die kleinen und großen Gemeinheiten des Lebens, für Gescheiterte, Non-Performer und Außenseiter hat sich die deutsch-schweizerische Bestsellerautorin seit je interessiert.

Lisa ist fast zehn Jahre alt

Hauptfigur Lisa ist neun Jahre alt („Fast zehn!“) und weiß meist schon vor dem Aufstehen, dass der Tag grässlich werden wird. Das Frühstück fällt aus, die Eltern schlafen den Rausch vom Vorabend aus, der Weg zur Schule führt vorbei an einem verlassenen Spielplatz, auf dem zwei Jugendliche die Vormittage totschlagen, schlechte Rapsongs einstudieren und ihren Frust an Lisa auslassen. In der Schule wird sie von den Klassenkameraden gemobbt, die Lehrerin hält sie für ein uninteressiertes Gör.

Rundreise über den Planeten

Die augenscheinliche Tristesse, in der Lisa gefangen ist, inszeniert Regisseurin Frauke Thielecke an den Kammerspielen als munter-farbenfrohe Reise zum Ich mit vielen Musik- und Tanzeinlagen. Die anfängliche Hoffnungslosigkeit, sie verkehrt sich alsbald ins Gegenteil, als Lisa einem dicklichen Außerirdischen namens Walter begegnet. Walter (der eigentlich unaussprechlich anders heißt) hat seine Aliengruppe während einer Rundreise über den Planeten Erde verloren. Er friert und will schnellstmöglich wieder nach Hause. Doch erst mal erteilt er Lisa wichtige Lektionen in Selbsthilfe und Gegenwehr. Ein paar Kung-Fu-Tricks sind nur der Anfang; innerhalb von Tagen verbannt Lisa die Spielplatz-Jugendlichen mit bösem Blick zurück aufs Klettergerüst, die Lehrerin mit der strengen Brille wickelt sie mit einem aufmerksamen Satz um den kleinen Finger.

Ein toller Problemlöser

„Mein ziemlich seltsamer Freund Walter“ findet dabei stets die richtige Tonlage zwischen Schrägheit und Ernsthaftigkeit, Ausgelassenheit und Relevanz. Die nur fünf Darsteller sind durchweg bestens aufgelegt (Lisa: Clara Brauer als liebeswertes Mützenmädchen; Walter: Moritz Mutzmann als lebenskluger Knuddelbär mit Blick fürs Wesentliche) und werden mit vielen Lachern und Szenenapplaus vom Publikum belohnt.

Sibylle Berg hat ein Mutmacher­stück geschrieben – aber eines, das ohne Moralkeule auskommt. Die Botschaft, dass jeder sein Leben selbst in der Hand hat, ist natürlich eine ziemlich blauäugige These. Andererseits: Manchmal braucht es ja wirklich nur einen kleinen Schubs, um dem Alltag eine neue Wendung zu geben. Ein unsichtbarer Walter, den außer Lisa niemand sehen kann, ist natürlich ein Glücksfall. So einen Walter, denkt sich wohl der ein oder andere im Publikum, könnte man selbst als Problemlöser mitunter gut gebrauchen. Einen Nachteil, das weiß man spätestens seit E.T., haben die außerirdischen Kameraden jedoch: Sie sind nur zu Besuch auf der Erde.

Auch für Walter ist die Zeit irgendwann gekommen. Ein schlechtes Gewissen muss er dabei jedoch nicht haben. Denn Lisas Eltern haben die Bademäntel endlich gegen saubere Kleider getauscht, kochen Fischstäbchen und Spinat. Ein Happy End bei Sibylle Berg? Das ist ungewöhnlich, aber nicht unglaubwürdig.

„Mein ziemlich seltsamer Freund Walter“, Hamburger Kammerspiele, Hartungstraße 9-11 (U Hallerstraße, Bus 4 und 5). Nächste Vorstellung: 4.12., 14 und 16.30 Uhr. Weitere Termine bis 18. Dezember, Karten zu 8 bis
19 Euro unter T. 413 34 40.