Hamburg. Am Mittwoch beginnt die Frankfurter Buchmesse. Sie erinnert daran, dass Buchregale von Zeit zu Zeit Nachschub vertragen.

Das alles überstrahlende Thema dieser Literatursaison: Elena Ferrante! Schade eigentlich, dass das Geheimnis um die wahre Identität der Bestsellerautorin gelüftet wurde.

Man wird deshalb in den Messehallen Frankfurts, wo von diesem Mittwoch bis zum Sonntag die größte Bücherschauder Welt stattfindet, niemanden halbwegs italienisch anmutenden Flaneur augenzwinkernd oder ernst sagen hören, sie – oder er! – sei die Person hinter dem erfundenen Namen.

Und die Frage, ob man ein Pseudonym gegen den Willen seiner Besitzerin lüften darf oder nicht, ist ja nun auch hinreichend erörtert worden, freilich ergebnislos. Halten wir fest: Anita Raja, wie Ferrante laut Personalausweis heißt, kann unterhaltsam und fesselnd schreiben. Gut, dass ihre Neapel-Saga jetzt auch ins Deutsche übersetzt wird. Ferrante-Bücher werden jedenfalls auf Jahre auf der Bestsellerliste stehen, so viel ist sicher.

Buchmesse ist, wenn literarische Novitäten die Buchhandlungen, Versandhandellager und Studierstuben fluten und wenn auch jenseits des ganz großen Lesepublikums tolle Bücher gemacht werden. In diesem Jahr steht auf der Messe die Literatur Flanderns und der Niederlande im Mittelpunkt. Gesellschaft und Politik, Leben und Geist einer Weltregion kann man sich, wenn man sie nicht körperlich bereist, hervorragend mithilfe von Büchern erschließen – weshalb die Gastland-Tradition der Messe eine wunderbare Sache ist.

Es gibt noch mehr zu entdecken aus allen Sprachen der Welt: zum Beispiel den neuen Don DeLillo, der über das wahnhafte Verlangen ewigen Lebens schreibt. Oder die neuen Bücher von Terezia Mora und Mathias Enard.

Die Abendblatt-Redaktion hat testgelesen und stellt hier ihre Lieblingstitel aus den Bereichen Belletristik und Sachbuch vor.

Sie alle gehören in einen Literaturherbst, der ebenfalls frischen Lesestoff etwa von Christian Kracht, Bodo Kirchhoff, Frank Schulz und Brigitte Kronauer bietet. Außerdem ganz neu im Geschäft: Der US-Musiker Bruce Springsteen, der seine Memoiren geschrieben hat, und der Schauspieler und Kanzlersohn Matthias Brandt, der seinen ersten Erzählungsband vorlegt. Die Auswahl ist groß, es gibt reichlich zu lesen. (tha)

Perfekter Pageturner

Mit ihrem Debüt „Die Falle“ gelang Melanie Raabe vor Jahresfrist das, wovon Autoren zumeist nur träumen können: Bereits vor der Veröffentlichung hatte sich die US-Produktionsfirma TriStar Pictures die Filmrechte gesichert, die Lizenzen für die Übersetzung waren in mehrere Länder verkauft. Und das durchaus zu Recht: „Die Falle“ war ein fulminanter Thriller.

Mit „Die Wahrheit“ (btb, 16 Euro) hat die in Köln lebende Autorin der deutschsprachigen Thrillerliteratur nun ein weiteres sehr lesenswertes Werk hinzugefügt. Darum geht’s: Sarahs Ehemann Philipp ist vor sieben Jahren verschwunden, seit einer Geschäftsreise nach Südamerika fehlt jede Spur von ihm. Als Sarah die Nachricht erhält, ihr Mann sei noch am Leben und kehre in Kürze zurück, glaubt die junge Frau zu träumen. Als sie ihn unter großem Medienrummel vom Flughafen abholt, wird der Traum zum Alptraum: Der Mann, der ihr entgegenkommt, ist nicht ihr Ehemann. Was folgt, ist ein atemloser Psychothriller, grandiose Bilder der Angst, ein furioses Finale. Perfekter Pageturner. (va)

Die Verdorbenen

Sex, Politik, Skandale, Verschwörungen, alles schön schmutzig. Nein, nicht den US-Wahlkampf hat der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa im Sinn gehabt. Der große lateinamerikanische Erzähler, erst kürzlich 80 Jahre alt geworden, widmet sich seinem eigenen Land. Da geht es nicht minder verdorben zu. „Die Enthüllung“ (Suhrkamp, 24 Euro) heißt sein neuer Roman, es ist eine Abrechnung.

Mit dem früheren peruanischen Staatspräsidenten Alberto Fujimori, dem Vargas Llosa 1990 in der Wahl unterlag und der es mit den Menschenrechten nicht so genau nahm. Mit dem mächtigen Geheimdienst Perus, der Fujimori stützte und bei Vargas Llosa in Person des üblen, allmächtigen „Doktors“ auftaucht. Und mit der Klatschpresse. Ein Sexskandal in der (allerliebst beschriebenen) High Society Limas führt zum Mord an einem Gossenchefredakteur – und zur sexuellen Erweckung zweier Millionärspärchen. Frivole Fantasien, spannender Plot, ungenierte Figuren und das süffige Porträt einer Gesellschaft, in der Moral nichts gilt. (msch)

Leben in Kürze

Wie banal ist so ein Leben? Das doch aus einer Abfolge eher zufälliger Begegnungen und Familienkonstellationen besteht, in dem man sich verliebt, einer stirbt, in dem es Geheimnisse, Freundschaften, Ressentiments gibt. So ist es immer, überall. Wie Sylvie Schenk es gelingt, in ihrem schmalen Roman „Schnell, dein Leben“ (Hanser, 16 Euro) so stark zu verdichten, dass die Banalität gleichzeitig sichtbar und völlig unmöglich wird, ist bemerkenswert.

Sie erzählt die Geschichte einer in den 50er-Jahren aufgewachsenen Französin, die sich als junge Frau in einen Deutschen verliebt und ihm in sein Land folgt. Es ist das Wie, mit dem Schenk, Jahrgang 1944 und selbst Französin, das tut. Sie schreibt auf Deutsch, präzise, und entscheidet sich, höchst ungewöhnlich, für die zweite Person als Erzählperspektive. Wie Handlungsanweisungen erscheinen die kurzen Kapitel dadurch, schon der Titel hat etwas Überrumpelndes. Gleichzeitig wirkt es, auch durch das gewählte Präsens, wie ein notizenhaftes Tagebuch. Man kommt den Figuren seltsam nahe und erkennt atemlos, wie kurz so ein Leben ist. Und wie verblüffend wenig banal. (msch)


Quell im Morgenland

Franz, der Musikwissenschaftler und Orientalist, ist sehr krank und lässt Revue passieren, was seinem Leben Tiefe und Wärme gab und seinen „Kompass“ (Hanser Berlin, 25 Euro) geformt hat. So heißt das preisgekrönte Buch von Mathias Enard, das die unerfüllte Liebe zu der Orient-Forscherin Sarah mit einer Reise durch die Kulturen jener Länder verwebt, deren Identität heute Krieg und Konflikte überlagern: Syrien, Iran, Ägypten, die Türkei. Enard lässt Sarah und Franz das Morgenland erforschen.

Sie besuchen Tempel, studieren alte Bücher, aus denen die Bau- und Erzählkunst lebendig wird. Für Mozart und Goethe waren die osmanischen Kulturen ein Quell der Inspiration. Enard zeigt, wie viel Kunst durch Reisen oder die Übersetzung der Geschichten aus 1001 Nacht entstand, von Hofmannsthals Scheherazade bis zu Mata Haris und Salomes Schleiertänzen, gemalt von den Symbolisten. In großer Gelehrsamkeit springt die Freude am Schönen, am Exotisch-anderen aus diesem kurzweiligen Buch über. Außerdem der Sinn für das Langsame, das Zuhören und Nachdenken, aus dem dann Geschichten, Klänge und sogar Düfte wachsen. (eng)


Falsch erinnern

Dass eine Rechtspsychologin, die über die Erinnerungsarbeit des Menschen forscht, eine wichtige Expertin für Polizei und Justiz ist, überrascht nicht. Schließlich geht es bei den Aussagen von Angeklagten und Zeugen häufig um Gedächtnisarbeit. Die Deutschkanadierin Julia Shaw (29) hat in aufsehenerregender Weise vorgeführt, wie man Menschen Straftaten einreden kann, die sie gar nicht begangen haben.

In unser aller Leben spielen Gedächtnistäuschungen eine gewaltige Rolle. Shaw hat die falschen Erinnerungen zum Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht und ihre Erkenntnisse in dem höchst aufschlussreichen Sachbuch „Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht“ (Hanser, 22 Euro) unterhaltsam aufgeschrieben. Shaw treibt uns mit ihren Überlegungen auch die stets selbstbewusste Haltung aus, wir seien geborene Multitaskingfähige: In Zeiten von Facebook, SMS und Internet leisten wir geistig weniger, wenn wir gleichzeitig analog und digital unterwegs sind. Shaw versammelt viele verhaltenspsychologische Experimente – und man staunt, wie sehr man sein Gehirn bisweilen falsch einschätzt. (tha)


Auf Identitätssuche

Nichts kommt so, wie man es vermutet. Dies gilt für sämtliche Erzählungen von Terezia Mora – und spricht unbedingt für sie. Es sind ungewöhnliche Figuren, die die Buchpreisgewinnerin von 2013 in „Die Liebe unter Aliens“ (Luchterhand Verlag, 22 Euro) in den Mittelpunkt ihrer Geschichten stellt: ein japanischer Professor, der sich in eine Göttin verliebt.

Ein Schaffner in Frührente, genannt der „Marathonmann“, der überfallen wird. Ein Mann, der vom Tod seines besten Freundes aus Kindheitstagen erfährt. Sie alle müssen mit Verlusten und Trennungen kämpfen, hängen verpassten Gelegenheiten nach und hadern mit dem Älterwerden. Fremdsein und Entwurzelung sind seit je die großen Themen der 1971 in Ungarn geborenen Mora. Nur selten sind sie ausbuchstabiert, meist schwingen sie leise mit. Trotz ihrer kurzen, manchmal rasanten Sätze gelingt Terezia Mora damit eine Poetik und Melancholie, die dem Erzählband einen eigenen, eigenwilligen Sound verleiht. Das größte Kompliment, dass man der Erzählerin machen kann: Man folgt ihren Figuren gespannt auf ihren Reisen zur eigenen Identität. (jac)


Thriller mit Tiefgang

Scott Burroughs schwimmt. Er schwimmt um sein Leben, die ganze Nacht durch, im Arm einen vierjährigen Jungen. Im Morgengrauen erreichen sie schließlich den Strand von Montauk. Scott und der Junge JJ sind die einzigen Überlebenden eines spektakulären Flugzeugabsturzes. Fortan werden sie von den Medien gejagt. Scott Burroughs ist für einige Woche der Held der ganzen Nation, dann wieder wird er verdächtigt, den Absturz mitverschuldet zu haben.


Noah Hawley schildert in „Vor dem Fall“ (Goldmann Verlag, 22,99 Euro) die so packende wie berührende Geschichte eines Unglücks, das bereits lange Zeit vor dem eigentlichen Absturz seinen Anfang genommen hat. Hawley, der als aktueller Wunderknabe der amerikanischen Unterhaltungsbranche gilt und fürs Fernsehen schreibt („Fargo“), hat seinen Thriller geschickt komponiert: Er erzählt aus wechselnden Perspektiven die individuellen Schicksale der Flugzeuginsassen, behält aber immer alle Strippen in der Hand und zeigt auf, wie alles mit allem zusammenhängt. „Vor dem Fall“ ist ein ganz großer Roman, aus dem man nur ungern wieder auftaucht. (jac)


Der Meisterkritiker

Alfred Kerr (1867–1948) war der wichtigste Kritiker der Weimarer Republik: Er machte den Dramatiker Gerhart Hauptmann groß und Bertolt Brecht klein. Er focht seine Kämpfe mit Thomas Mann aus und zog den Hass von Goebbels auf sich, er musste vor den Nazis fliehen und erarbeitete sich als derjenige, der über die modernen Klassiker schrieb, selbst Klassikerstatus.

Über das exemplarische Leben dieser deutschen Geistesgröße hat die Germanistin Deborah Vietor-Engländer nun ein Buch geschrieben. Die erste große Kerr-Biographie (Rowohlt, 29,95 Euro), es wurde höchste Zeit. Sie zeichnet Kerrs Vita von den Anfängen in Breslau über die Glanzjahre in Berlin bis zum Exil in Frankreich und anschließend in London nach. Das Unterfangen, den Lebensweg Kerrs abzugehen, ist gleichzeitig eine Tour durch die deutsche Gesellschafts- und Kunstgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kerr war ein Sprachvirtuose, der mit Worten austeilte und Meinung machte. Begraben ist er übrigens auf dem Friedhof in Ohlsdorf. Während einer Reise erlitt er in Hamburg einen Schlaganfall und beging anschließend Selbstmord. (tha)


Nie Fleisch essen

Das neue Buch der Südkoreanerin Han Kang „Die Vegetarierin“ (Aufbau Verlag, 18,95 Euro) ist keine Lifestyle-Bibel. Vielmehr entfaltet die Autorin eine höchst politische Parabel aus drei Perspektiven. Der erste Erzähler hat seine Frau geheiratet, weil sie ihm ob ihrer Durchschnittlichkeit ein Leben ohne Anstrengung verheißt. Das ändert sich, als sie sich nur noch von Pflanzen ernährt, ja aus Traumdeutungen heraus glaubt, selbst eine Pflanze zu sein. Die Verweigerung wird zum subversiven Akt, der bald die ganze Ehe unmöglich macht. Einziger Verbündeter wird ihr Schwager, ein Videokünstler, der die zweite Perspektive einnimmt.

Es kommt auch für ihn zur Ehekatastrophe, die schließlich zur dritten Perspektive, jener der Schwester der Vegetarierin führt. Han Kang erzählt in ihrem mit dem International Man Booker Prize 2016 gewürdigten Werk auf sehr kluge, verstörende Weise von weiblicher Selbstermächtigung durch radikale Verweigerung. Und das in einer von Fleischlust, aber auch patriarchalem Gesetz und Gewalt bestimmten Gesellschaft. (asti)


Alltagsfrieden

Der unaufgeregte Alltag eines frisch gebackenen Strohwitwers mit drei heranwachsenden Söhnen kann richtig angenehm sein: „Das Leben ist gut“ (Hanser, 20 Euro) ist der bodenständige Titel des leise-vergnüglichen Buches von Alex Capus. Max, die Hauptfigur, dessen geliebte Frau für eine Gastprofessur nach Paris geht, ist Schriftsteller wie Capus, lebt in einer Kleinstadt und hat, ebenfalls wie Capus, eine eigene Bar und einen gut sitzenden Humor.

Abends lässt er langsam und mit Sinn für die heikle Stimmung seiner nicht mehr jungen Gäste das Licht ausgehen. Und morgens bringt er in aller Ruhe mit dem Handkarren das Altglas zum Container. Er gönnt sich die Zeit, um seine Umgebung wahrzunehmen, die Jahreszeiten, die Vögel, und überlegt, was früher noch da war und heute anders. Sein Leben im Zeitraffer wird ein Standbild sein, vermutet er, aber das stört ihn irgendwie nicht. Selbst dass seine Frau einen anderen haben könnte, bringt ihn nicht aus der Ruhe. Auch nicht, als er es sich genau vorstellt. (eng)



Ewig leben

Wieder ist die Zukunft so erkennbar, als wäre sie schon Gegenwart: In Don DeLillos dystopischem Roman „Null K“ (Kiwi, 20 Euro) lassen sich die reichen kranken Menschen einfrieren, um später in einer Welt, die sie von ihren Leiden erlöst, ewig zu leben. DeLillo, der große amerikanische Gegenwartsautor, begleitet seinen Helden Jeff auf dessen mehr oder weniger gruseligem Trip ins Sterbeum- zu-leben-Resort, in das sein Vater viel Geld investiert hat – er möchte sich ebenfalls kryokonservieren lassen, weil seine sterbenskranke Frau, Jeffs Stiefmutter, sich, nun ja, eine Auszeit vom Leben nehmen will.

Mit staunendem Blick wandelt Jeff durch die Hallen der Todesverächter. Ihm, der vergeudete Zeit als Lebensziel hat, gilt DeLillos Sympathie. Jeff ist ein Mann des „Weltsummens“, das all die Gebrechen, Grausamkeiten und kränkenden Widerfahrnisse in sich aufnimmt. Ist die Vater- Sohn-Geschichte ein moralisches Buch? Aber ja: Keine Vergänglichkeit ist schließlich auch keine Lösung. (tha)