Hamburg. Die Deichtorhallen und die Sammlung Falckenberg präsentieren die Sammlung Viehof in rund 600 Exponaten.

Was aus der großen Fülle an zeitgenössischer deutscher Kunst sollte man eigentlich kennen? Welche Künstler, welche Handschriften, welche Ausdrucksformen? Einen Begriff davon bekommt, wer die 600 Exponate umfassende neue Riesen-Doppel-Schau in den Deichtorhallen und der Harburger Sammlung Falckenberg besucht. Überaus kundig kuratiert von Deichtorhallen-Direktor Dirk Luckow, sind in beiden Häusern nun die meisten wichtigen (west-)deutschen Nachkriegskünstler versammelt.

Geprägt ist die Sammlung durch den Geschmack der vier rheinischen Unternehmer-Brüder Viehof, die 2008 einen Teil der Sammlung Speck hinzu erworben haben – und durch das Urteil ihres aus Museumsleuten bestehenden Beirats. Pikant daran ist, dass noch ein weiterer Mann als Berater gewissermaßen mitgesammelt hat: Der wegen Millionenbetrugs verurteilte ehemalige Kunsthändler Helge Achenbach war Initiator und einer von sechs Gesellschaftern der Sammlung Rheingold, die nun den Namen der vier Brüder trägt.

Die Sammlung zeigt Fantasie in ihrer Grenzenlosigkeit

Die Ausstellung gebe „einen Überblick über die deutsche Kunstgeschichte der vergangenen Jahrzehnte“, findet Dirk Luckow. Damit hat er recht, auch wenn der Anspruch auf Vollständigkeit so eine Sache und nicht jeder wichtige deutsche Künstler vertreten ist, zumal mit den jeweiligen Hauptwerken. Man hat aber häufig versucht, mehrere Werke desselben Künstlers zu erwerben, sodass sich der jeweilige Schaffens-Kosmos ganz gut erfassen lässt.

Sigmar Polke: „Weißer Raum“
Sigmar Polke: „Weißer Raum“ © Egbert Trogemann © The Estate of Sigmar Polke, Cologne / VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Egal, wo man den Rundgang in der Deichtorhalle anfängt – die meisten Räume warten mit großen Namen auf. Das zwölfte „Café Deutschland“-Bild vom Düsseldorfer Maler-Fürsten Jörg Immendorff flackert dramatisch aus dem Dunkel auf und ist eines der Prunkstücke: Deutsche Geschichte und Gegenwart hat der Künstler in assoziativen Fetzen zusammenkomponiert, und über allem hängen im Düstern die Reste eines Hakenkreuzes. Dazu gesellen sich diverse typische Raster-Bilder des Kölner Maler-Alchemisten Sigmar Polke – allerdings nicht auf Leinwand, sondern auf Kunstharz, sodass die Rahmenkonstruktion durchscheint.

Es folgt die Gegenüberstellung einer taufrischen Serie gleich großer Bilder des Minimalisten Imi Knoebel, Viereck im Viereck, die allein durch die Farbvariationen ganz unterschiedliche Architektur-Eindrücke wachrufen. Titel: „Pure Freude“. Daneben zwei der bekanntesten deutschen Fotografen: Candida Höfers brillante historische Innenraum-Fotos aus Italien und Thomas Struths wilde „Paradies“-Bilder mit Dschungel-Feeling. Ganz trocken und ironisch hängt dann dort auch noch die anspielungsreiche Arbeit einer der renommiertesten, im weiteren Sinne feministischen Künstlerinnen: Rosemarie Trockels drei verkehrt herum aufgehängte Besen.

Sogleich betritt man einen dunklen Raum, in dem ein herausragendes Konvolut an frühen Werken von Josef Beuys zu erleben ist, der das Einfache, Zeichenhafte mit Spiritualität aufgeladen hat und als Meister des erweiterten Kunstbegriffs gilt. Sein „Großer Aufgesogener Liegender im Jenseits wollend Gestreckter“ ist ein hölzerner Liegestuhl mit Filzbezug. Und wie eine Reliquie wird auf einem Kissen ein in Mullbinden eingewickelter, kleiner wächserner Mädchen-Torso als „Jungfrau“ (1952) entblößt. Selten war Kunst so verletzlich und so nah an der Aussage, selten ein Beuys so untypisch.

Was soll man noch herausheben aus dieser Überfülle? Die sechs Gemälde des Großmeisters Georg Baselitz, die sich alle auf frühe Werke beziehen und deshalb „Remix“ heißen? Oder zwei wirkungsmächtige Großformate des berühmtesten ostdeutschen Künstlers Neo Rauch, die gewissermaßen geweiht werden durch die Nähe zu einem typischen Blut-Bild des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch? Aber da gibt es ja noch den zweiten Teil der rund 600 Exponate umfassenden Riesen-Schau zu entdecken. Dafür muss man per Shuttle oder S-Bahn in die Harburger Sammlung Falckenberg fahren. Vielen Künstlern begegnet man dort noch einmal wieder, es sind aber auch eine ganze Reihe anderer in Harburg versammelt. Mehrere Fotoserien im Erdgeschoss stecken das weite Terrain zwischen Natur und Stadt ab. Der international renommierte isländische (Licht-)Künstler Olafur Eliasson fotografierte 1994 Brücken im scheinbaren Niemandsland unter meist verhangenem Himmel, wo das Wasser dennoch leuchtet.

Martin Kippenberger: „Kulturbäuerin
bei der Reparatur ihres Traktors“
Martin Kippenberger: „Kulturbäuerin bei der Reparatur ihres Traktors“ © Estate Martin Kippenberger / Galerie Gisela Capitain, Köln

Von dem vielleicht düstersten deutschen Künstler Gregor Schneider, der Albträume des Gefangenseins in Räumen verbildlicht, zeigt Harald Falckenberg im vierten Stock eine fensterlose „Isolierzelle“. Im Erdgeschoss zeigt eine Serie kleiner Schneider-Fotos gewissermaßen die Vorstufen solcher realisierter Raumfantasien – angstbesetzte, enge, klaustrophobische Flure, Zimmerecken, Schlafbuchten oder Kellerverschläge.

Zwischen sehr vielen weiteren Bildern, die nicht alle dieselbe Qualität haben, entdeckt man ein paar bemerkenswerte, Revolte-geschwängerte Collagen des Trash-Künstlers und Bürgerschrecks Martin Kippenberger. Wer sich dann noch nach ganz oben begibt, der wird um neue Perspektiven auf städtische und damit soziale Räume reicher. Von Andreas Siekmann ist hier eine große, komplett in rote Piktogramme und Schemata gegliederte Installation mit dem schönen Titel „Theatrum Mundi Oeconomicus – Stationen eines Marktmechanismus“ aufgebaut. Siekmann hinterfragt damit kritisch die Ökonomisierung der Gesellschaft und des öffentlichen Raums, besonders nach dem Zusammenbruch der DDR.

An Burgzinnen oder Himmelstreppen erinnernd führen fünf kultische Beton-Stelen des Kölner Bildhauers Hubert Kiecol weiter nach hinten. Dort wird Architektur noch mal zur Kunst, etwa irrgartenmäßig in Farbstreifenfelder gegliedert und verfremdet von der Malerin Corinne Wasmuht, und in vielen weiteren sehr interessanten, anregenden Arbeiten.

In der Sammlung Viehof zeigt sich künstlerische Fantasie in ihrer ganzen Grenzenlosigkeit, und das bedeutet Glück und Herausforderung zugleich.

Sammlung Viehof Deichtorhallen (U Hbf), Deichtorstr. 1–2, Di–So 11–18.00, jeden 1. Do im Monat bis 21.00. Sammlung Falckenberg, (S Harburg), Wilstorfer Str. 71, jeden 1. Sonntag im Monat geöffnet von 12.00–17.00, außerdem nach Anmeldung im Rahmen von Führungen unter: www.deichtorhallen.de/buchung, Eintritt: Viehof-Ticket für beide Ausstellungen 15,- oder erm. 12,- bis 22.1.2017