Hamburg. Harald Weiler gelingt mit „Fast Normal“ eine starke Inszenierung. Er setzt gekonnt auf Klarheit und sensible Zwischentöne.

Was ist schon normal? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Sportler und Schriftsteller machen ihre Depressionen und ihre Bipolarität öffentlich. Gleichzeitig fällt es noch immer schwer, darüber zu sprechen, zu groß sind Scham und Furcht vor Stigmatisierung. In diese Zeit fällt ein wichtiges Stück, das vor Jahren wohl so nicht möglich gewesen wäre. „Fast Normal“ ist ein mit Tony Award und Pulitzer-Preis für Drama dekorierter Broadway-Hit von Brian Yorkey mit Musik von Tom Kitt. Das Stück zeigt ein Familiendrama um eine seelische Krankheit – als Musical.

Kann das funktionieren? Ja, es kann. Regisseur Harald Weiler gelingt bei seiner Inszenierung in den Hamburger Kammerspielen dieses Wagnis. Krankheit, Familie, ja, das Leben in all seiner mitunter komplizierten Vielheit, hier wird es besungen und gefeiert – auch und gerade in seinem manchmal unlösbar scheinenden Schmerz. Obwohl hier keine königlichen Löwen tanzen und kein attraktiver Tarzan sich von Liane zu Liane schwingt.

Carolin Fortenbacher spielt einen zupackenden Charakter

Diana, gespielt von der unglaublich wandlungsfähigen Carolin Fortenbacher, verhält sich, gelinde gesagt, auffällig. Sie redet explizit über den Sex mit dem Ehemann, schmiert morgens wie besessen Pausenbrote. Manische und depressive Phasen wechseln sich ab. Die Familie reagiert liebevoll verstört. Ein Arzt diagnostiziert eine bipolare Störung und verschreibt haufenweise Psychopharmaka, bis sich Diana wie ein gefühlsamputierter Zombie fühlt. „Mir fehlen die Berge“, singt sie und meint damit nicht die Alpen. Also spült sie die Pillen ins „glücklichste Klo“ der Stadt. Doch mit dem kalten Entzug kommen die Gefühle zurück, und da fangen die Probleme erst richtig an.

Ausstatter Lars Peter hat eine kleine Box auf die Bühne gestellt, die mal als Raum für Traumwelten, mal als Krankenzimmer fungiert. Fortenbacher erweist sich nicht nur als stimmgewaltig, sondern auch als veritable Charakterdarstellerin. Ihre Diana ist eine zupackende Frau, deren Wahrnehmung im wahrsten Sinne ver-rückt ist. An ihrer Seite kann der Ehemann auch gesanglich nur verblassen. Der tapfere, fürsorgliche Dan (Robin Brosch) ist weder ihrem Schmerz noch ihrer Kraft auf Dauer gewachsen. Dann ist da noch die etwas chaotische, aber aufgeweckte Tochter Natalie, gesungen von der expressiven Alice Hanimyan. Sie gibt der Göre eine erfrischende Aufmüpfigkeit. Den in sie verschossenen Henry (Jan Rogler) hat sie bald nicht nur in Bezug auf rauschfördernde Substanzen überholt. Und erst nach und nach enthüllt der Abend, welche Rolle der weiß gekleidete, blonde, hervorragend von Elias Krischke gesungene junge Mann auf der Bühne spielt, den Diana so besorgt bemuttert. Die Spur führt zu einem Familiengeheimnis, das die gesamte Familie traumatisiert.

Harald Weiler gelingt der Balanceakt, auch das schwer Erträgliche in der Musicalform weder allzu beklemmend, noch zu leichtfüßig zu erzählen. Gekonnt setzt er auf Klarheit, Offenheit und auf sensible Zwischentöne. Unter der musikalischen Leitung von Matthias Stötzel gleitet die fünfköpfige Band sicher auf dem Grat zwischen Rock, Blues und Soul. Auch der Auftritt von Tim Grobe als schriller Psychoklempner mit Rockstarpose liefert einen wohltuenden Bruch, ohne in Peinlichkeit abzugleiten. Das Hamburger Premierenpublikum ist den Weg Weilers und seines vorzüglichen Ensembles mitgegangen – Jubel, Bravos und Standing Ovations.

Das sollte man gesehen haben – ob Musicalfan oder nicht.

„Fast Normal“ bis 9.10., Hamburger Kammerspiele, Hartungstraße 9-11, Karten 27,- bis 51,- unter der HA-Hotline T. 30 30 98 98; www.hamburger-kammerspiele.de