Hamburg. Vier Pianisten, acht Hände, 88 Tasten – das ist die Idee des Projekts. Das Publikum in der Staatsoper ist entzückt.

„Schneller!“, ruft ein Spaßvogel vom Rang der Staatsoper und erntet für seinen Zwischenruf einige Lacher. Auf der Bühne sitzt Axel Zwingenberger und lässt seine Hände in einem Affenzahn über die Tastatur fliegen. Er hat die ironische Aufforderung gehört und schafft es tatsächlich, die Schlagzahl bei seinem Boogie-Woogie noch einmal zu erhöhen. Das Publikum in der fast ausverkauften Staatsoper ist entzückt und spendet spontan Beifall für den Hochgeschwindigkeitspianisten.

Boogie-Pianisten hatten Anfang des vergangenen Jahrhunderts in New Orleans und anderen US-Städten die Aufgabe, mit ihrem virtuosen Spiel eine Kneipe zu unterhalten und für Stimmung und gesteigerten Getränkeumsatz zu sorgen. Säße Zwingenberger in so einem Saloon, hätte er wohl immer ein volles Bierglas auf seinem Klavier – spendiert von begeisterten Zuhörern. Im Saal der Oper darf zwar nicht gezecht werden, doch die Stimmung ist genauso euphorisch wie in einer Spelunke am Mississippi.

Zwingenberger, einer der weltbesten Boogie-Pianisten, ist Teil des Hamburger Pianosommers, der am Montagabend Premiere feierte. Vier Pianisten, acht Hände, 88 Tasten – das ist die Idee des Projekts. Joja Wendt, selber Jazzmusiker und Mitinitiator, übernimmt die Vorstellung der beteiligten Künstler, nachdem alle vier zu Beginn eine kurze Kostprobe ihres Könnens gezeigt haben.

Als „den jungen Wilden“ und „Hamburg-Schweden“ stellt Wendt seinen Mitstreiter Martin Tingvall vor. Der skandinavische Jazzer lebt seit einigen Jahren in der Hansestadt, in der sein Trio zu Hause ist. Den Boogie-Weltmeister Zwingenberger kennen die meisten Zuschauer, er bekommt schon bei der Vorstellung lauten Applaus. Sebastian Knauer ist der Klassiker des Quartetts, Wendt lobt ihn als den technisch Versiertesten dieser Viererbande.

Knauer darf seine brillante Technik und sein hohe Musikalität als Erster zeigen. Er beginnt den Abend mit einer wundervoll intonierten Version von George Gershwins „Rhapsody in Blue“. Normalerweise wird das Stück von großen Orchestern aufgeführt, Knauer schafft es, alle Nuancen auf dem Flügel auszudrücken. Der weltweit bekannte Klassikinterpret ist jedoch nicht nur ein exzellenter Instrumentalist, sondern besitzt auch Entertainer-Qualitäten. Bevor Wendt und er mit Stücken des Sonderlings Erik Satie weitermachen, erzählt Knauer ein paar Döntjes aus dem Leben von Gershwin und führt pointiert in das Leben von Satie ein.

Der Pianosommer bekommt durch diese lockeren Zwischenmoderationen etwas von einem Gesprächskonzert. Akademische Strenge verbietet sich bei diesem Programm zwischen Klassik, Jazz und Boogie-Woogie.

Wendt improvisiert einen spontanen „Staatsopern-Boogie“

Hochprozentiges ist auch im Leben von Art Tatum von großer Wichtigkeit gewesen. Der 1956 gestorbene schwarze Musiker gilt als der vielleicht beste Jazz-Pianist aller Zeiten. Der Virtuose Vladimir Horowitz soll über Tatum gesagt haben: „Gut, dass er Jazz spielt und nicht Klassik. Sonst könnten wir alle einpacken.“ Tatum jedenfalls ließ sich, während er spielte, immer mal ein Gläschen ans Klavier bringen, gleichzeitig waren die Drinks damals auch die Bezahlung der Musiker. Während Wendt eines der irrwitzigen Stücke des Jazz-Neuerers spielt, stellt er nach, wie Auftritte von Tatum wohl abgelaufen sind. Mittendrin unterbricht er das Spiel mit der rechten Hand, hebt einen Finger und bestellt. Tingvall serviert seinem Kollegen einen Drink, doch das Glas enthält nur Wasser.

Prickelnder ist Wendts Performance. Der mit allen Jazz-Wassern gewaschene Pianist beherrscht ebenfalls den Boogie-Woogie und improvisiert einen spontanen „Staatsopern-Boogie“.

Nach der Pause stehen Tingvall und Zwingenberger mehr im Mittelpunkt. Der Schwede ist der Impressionist dieses Virtuosen-Ensembles. „An Idea Of Distance“, ein Solostück, spielt er gemeinsam mit Knauer, es folgen Kompositionen aus seinen beiden Soloalben. Tingvall ist mit seinen lyrischen und komplexen Melodien der Gegenentwurf zu Zwingenbergers rollenden Blues- und Boogie-Nummern, die dramaturgisch geschickt am Ende dieses höchst unterhaltsamen Abends stehen.

Mit enormer Lässigkeit variiert Zwingenberger Themen und Riffs, dazu stampft er mit dem rechten Fuß den durchgehenden Takt, seine über die Tastatur fliegenden Hände scheinen ein Eigenleben zu führen. Zwingenberger zeigt die perkussiven Möglichkeiten eines Flügels auf und wird immer wieder mit Jubel belohnt, wenn ihm eine originelle Wendung innerhalb seiner Improvisationen gelingt.

Das Publikum ist völlig aus dem Häuschen und möchte die Musiker auch nach zweieinhalb Stunden nicht von der Bühne lassen. Die Profis sind natürlich auf eine Zugabe eingestellt und interpretieren „Summertime“, den bekanntesten Song von George und Ira Gershwin aus „Porgy and Bess“. Hintereinander zeigt jeder seine Interpretation des Klassikers. Am leichtesten klingt die Melodie bei Zwingenberger, der den Reigen beginnt. Wendt arbeitet die Dramatik des Liedes heraus, Tingvall tastet sich vorsichtig an das Thema heran, bei Knauer bekommt der Song eine Melancholie, die das Ende des Sommers erahnen lässt.

Die Idee des Pianosommers ging auf. Und Joja Wendt blickte am Ende voraus: „Bis zum nächsten Jahr.“

Für das Konzert heute um 20 Uhr in der Staatsoper gibt es noch Restkarten.