Hamburg. „Dirigiert uns!“, forderten die Hamburger Symphoniker ihre Zuhörer auf. Auch Abendblatt-Redakteur Tino Lange probierte es aus.

Da liegt er, der Taktstock. Ich ergreife ihn wie Artus das Schwert Excalibur, das er aus einem Felsen zog, um König von Britannien zu werden. Jetzt gehören die Hamburger Symphoniker mir. „Dirigiert uns!“, forderte das Ensemble Touristengruppen und Flaneure vor dem Rathaus auf. Jetzt sitzt das Orchester vor dem Brunnen im Innenhof des Rathauses und harrt der Spontan-Dirigenten, die da kommen, um die Musiker beim Spielen der Ouvertüre zu Mozarts „Zauberflöte“ oder dem letzten Satz von Beethovens Neunter Sinfonie anzuleiten.

Ich allerdings komme nicht zufällig vorbei: Wenn eines der besten Orchester der Stadt sich von Passanten dirigieren lässt, dann schickt das Abendblatt sein leichtestes Opfer. Den Pop-Redakteur, der auf die Frage, welche klassische Musik er am liebsten hört, gern mit „Rachmaninow, Mussorgski, Mahler. Vivaldi ist Mainstream“ antwortet. Nicht weil es so ist, sondern um kenntnisreich zu wirken. Aber genau solche Menschen wollen die Symphoniker erreichen.

Natürlich habe ich mich vorbereitet – „Dirigieren“ bei Wikipedia recherchiert

„MusikImPuls“ heißt die Initiative des Ensembles, bei der mit Auftritten an ungewöhnlichen Orten wie im Alten Elbtunnel oder – als Projektion – an der Fassade des Feldstraßenbunkers Berührungsängste vor klassischer Musik abgebaut werden sollen. Und näher als auf dem Dirigentenpult können sowohl Laien als auch Klassik-Liebhaber der Musik und den Menschen, die diese Leidenschaft an einem warmen Sonnabendmittag wecken möchten, nicht kommen.

Abendblatt-Redakteur Tino Lange beim „Dirigieren“
Abendblatt-Redakteur Tino Lange beim „Dirigieren“ © Roland Magunia | Roland Magunia

Eine ordentliche Portion Berührungsangst ist allerdings vorhanden, als die Symphoniker vor dem Brunnen im Rathaus-Innenhof ihre Instrumente stimmen, umrahmt von vielen neugierigen Passanten und Touristen. Intendant Daniel Kühnel geht ans Mikrofon und stellt das Konzept von „Dirigiert uns“ vor. Es ist ganz einfach: Man geht an das Pult, nimmt den Taktstock, wünscht sich Mozart oder Beethoven und sobald man sich bewegt, geht’s los. Das Carnegie Hall Orchestra hat eine ähnliche Aktion vor drei Jahren auf den Straßen New Yorks durchgeführt und nebenbei einen kleinen YouTube-Hit geschaffen.

Natürlich habe ich mich vorbereitet, „Dirigieren“ bei Wikipedia recherchiert, mich über „Schlagfiguren“ informiert, über die Muster also, die Dirigenten mit dem Taktstock in die Luft stechen wie Voodoo-Priester in ihre Opferpuppen. Aha. Ich habe mir Filmaufnahen von Dirigenten bei der Arbeit angesehen und erfahren: Tempo, Rhythmus, Lautstärke, Ausdruck, Korrekturen, Einsatzsignale für Instrumentengruppen, Solisten und wer weiß was noch werden vom Dirigenten mit Gesten und Mimik in Echtzeit gesteuert. Das erfordere „jahrelange Ausbildung und Erfahrung“. So, so. Na, zehn Minuten Wikipedia müssen reichen.

Und überhaupt: Die Symphoniker haben ja auch noch ihre Noten. „Keine Sorge, die Musiker können das“, flüstert Daniel Kühnel lächelnd, als ich ihn frage, ob das Orchester weiß, worauf es sich mit mir als Dirigenten einlässt. Aber zuerst ist der zwölfjährige Fabian aus Köln dran. Eigentlich geht er lieber zum Eishockey als zu klassischen Konzerten, aber er kennt die Melodie der „Ode an die Freude“ aus dem letzten Satz von Beethovens Neunter Sinfonie, die auch die Hymne der Europäischen Union ist. Forsch stellt er sich auf das Podest, verbeugt sich, greift zum Stock und – da ist sie, die Freude. Pianissimo am Beginn, singende Streicher. Sehr verhalten im Tempo, das Prestissimo mit Pauken bestimmend und im Innenhof widerhallend. Finale, Lachen und Applaus!

Zappeliger Dirigent bringt einige Musiker aus dem Takt

Ich bin danach dran. Als ich den Taktstock ergreife, überlege ich, ob ich das Eis mit einem lockeren Spruch breche: „Eigentlich stehe ich ja eher auf die Hamburger Philharmoniker und das NDR Sinfonieorchester“ oder so was. Es gibt auch Hunderte Witze über Bratscher, aber wer ist hier Bratscher und wer Violinist? So bekommt die attraktive zweite Geige ein Lächeln, und wir beginnen mit der Ouvertüre aus Mozarts „Zauberflöte“. Ich schwinge den Stock in Auf- und Abwärtsfiguren. Kennen Sie dieses Kindergeburtstagsspiel, wo man mit verbundenen Augen eine Nadel mit einem Eselsschwanz auf einen aufgemalten Esel pieken muss? Ungefähr so. Die linke Hand imitiert James Last beim Mitschnippen von „Biscaya“. Das Orchester klingt tatsächlich mehr nach Mozart als nach „Wir stimmen unsere Instrumente noch“. Aber achten die Musiker wirklich auf mich? Zum Test benutze ich die einzige Dirigentengeste, die ich mir merken konnte: hoch erhobene Hand. Das Orchester bricht sofort ab. Geht doch! Gelächter, Applaus.

Fabian und ich machen den anderen Mut, und in den folgenden 40 Minuten geht es Schlag auf Schlag. Mozart. Beethoven. Zumeist Beethoven. Kleine Mädchen, eine Chorleiterin, eine Mutter mit ihrem Zweijährigen auf den Arm und ein fantastischer Amateur-Dirigent, der seit 40 Jahren auf so einen Moment gewartet hat, wechseln sich ab. Bei einem besonders zappeligen Dirigenten geraten einige Musiker aus dem Takt und flüstern kichernd mit dem Sitznachbarn. Ein Spaß für alle Beteiligten.

Abends stoße ich beim Zappen bei 3sat auf Dirigent Andrés Orozco-Estrada, der das Orchester Concentus Musicus Wien dirigiert. Was für ein Zufall, auch hier „Ode an die Freude“. Der Maestro tanzt wie ein Derwisch, als er das Ensemble (ohne Stock) durch die Partitur prügelt.

Das kann ich auch. Nicht.

3. Hamburger Rathauskonzert 2016: „Der Glanz des Südens“ Mi 27.7., 19.00, Hamburger Symphoniker, Oksana Lyniv (Ltg.), Daniel Dodds, Violine, Werke von Mendelssohn Bartholdy, Lalo, Delius, Rathaus Innenhof; www.hamburgersymphoniker.de