Scheessel. Starkregen, Matsch, abgesagte Auftritte: Das Hurricane Festival litt unter dem Wetter, doch als Bosse auftrat, war alles wieder gut.
Aki Bosse war gerade noch laufen. Entlang der Maisfelder hinter dem Gelände des Hurricane Festivals im niedersächsischen Scheeßel. Jetzt steht er – die Haare nass zurückgekämmt, die Sonnenbrille auf dem grinsenden Gesicht – auf der hölzernen Terrasse des Künstlerdorfs hinter der blauen Bühne. Der Blick schweift über eine idyllische Seenlandschaft, die der Starkregen der vergangenen Tage erschaffen hat. „Da hinten geht allen Ernstes jemand baden“, sagt Bosse amüsiert und zeigt auf einen Typen in der Ferne, der mit einem aufblasbaren Krokodil ins Wasser watet.
Backstage, wo im Catering-Zelt gedeckte Tische mit weißen Stoffservietten auf zu verköstigende Musiker und hungrige Techniker warten, ist der matschige Irrsinn vor den Bühnen weit weg. Während sich auf dem Campingplatz mehr als 70.000 Fans an diesem endlich trockenen Sonntag die Unwetternässe aus Schlafsäcken, Klamotten und Gliedern schütteln, bereitet sich Bosse langsam auf seinen Auftritt am Nachmittag vor.
Der 36-Jährige, der mit seinem klugen Popalbum „Engtanz“ jüngst auf Platz eins der Charts landete, hat Glück: Am Sonnabend musste der Veranstalter FKP Scorpio sämtliche Konzerte wegen der Überschwemmung des Eichenrings absagen – darunter Shows von so namenhaften Bands wie The Prodigy und Maximo Park. „Wir haben die Entscheidung schweren Herzens gefällt“, erklärte Festival-Chef Folkert Koopmans bei der Bilanz des nunmehr 20. Hurricanes. Doch zum Jubiläumsfinale am Sonntag gehen die meisten Konzerte wie geplant über die Bühnen.
Bosse schlendert vergnügt zum Tourbus. „Erst mal Matscheschuhe holen.“ Unterwegs trifft er Leute, Leute, Leute. Er umarmt, klopft Schultern. Ein großes „Hallo – wie geht’s?“; ein Kumpeltyp. Wer den Musiker so erlebt, fragt sich kurz, ob es einen entspannteren Menschen auf dem Gelände gibt.
„Seit ich 13, 14 Jahre alt war, reise ich auf Festivals, um dort zu arbeiten. Früher war ich häufig als Backliner und Merchandise-Verkäufer für die Band Such A Surge mit dabei“, erzählt Bosse und tippt – am Tourbus angekommen – den Sicherheitscode in die Tür. Unten befinden sich bequeme Sessel, in der ersten Etage Betten und eine Lounge, in der er sich später mit seiner Background-Sängerin warm singen wird. 19 Menschen gehören zu seiner Tourfamilie. Band, Beleuchter, Roadies, Management. Und der Bus, der ist Rückzugsort, Ruhepol, Heimat auf Zeit. Mit einer Kiste Bier hinterm Sitz und Schokoriegeln auf dem Tisch. Bosse schaut aus dem Busfenster. Auf einen von Traktorenreifen durchpflügten Schlammacker. Und auf die größte, die grüne Bühne, auf der er in wenigen Stunden seine einstündige Show entfesseln wird.
Drei-, viermal hat der gebürtige Braunschweiger schon auf Norddeutschlands größtem Pop- und Rock-Open-Air gespielt. „Früher habe ich noch selbst mit aufgebaut und die Abrechnung gemacht“, erinnert er sich. „Das war echt schön. Anreise im Sprinter, wenig Aufriss, Sound egal, einfach los“, sagt er und lächelt. Mittlerweile zieht der mächtige Tourbus einen Hänger randvoll mit Equipment hinter sich her.
Bosse wählt aus einem Haufen von Gummistiefeln, die am Eingang des Fahrzeugs liegen. „Wir waren gestern noch mal richtig hart einkaufen im Baumarkt“, erzählt er. Dann stapft er rauchend und ins Handy tippend durch die weiche Erde hin zur steilen Treppe und hinauf auf die grüne Bühne, die 26 mal 18 Meter misst.
Unwetter und Matsch-Alarm beim Hurricane Festival
Matsch-Alarm beim Hurricane Festival
Bosse ist ein Vollblut-Live-Musiker. Einer, der den ganzen Zirkus nicht leid wird. „Festivals sind super. Wir haben nicht die Hauptverantwortung, im Sommer machen wir unterwegs noch am Badesee halt, ich kann gut Essen, Mittagschlaf machen und Freunde treffen.“ So wie jetzt, zurück im Künstlerdorf, als er Michael Marco Fitzthum begegnet, Sänger der schwer angesagten Austro-Pop-Band Wanda. Strahlen, umarmen, schnacken. Man kennt sich, man mag sich. Dieser Bosse, das ist auch ein kleines Kommunikationskraftwerk. Vor dem Auftritt will er auch noch eben beim Camp-Radio vorbeischauen.
Über die Frequenz 92,7 FM läuft da immer wieder der gemeinsam mit den Fans gedichtete Festivalsong „Am Sichersten seid ihr im Auto“ – entstanden aufgrund der steten Unwetterwarnungen, die von Donnerstag bis Sonnabend über den Äther gingen. Während die Fans unter Zeltplane oder Autodach den niederprasselnden Regen erduldeten, sendeten die Moderatoren ironisch aufmunternde Liedwünsche – von Karl Dalls „Heute schütte ich mich zu“ bis zu „Last Christmas“ von Wham. Der Soundtrack zu Schlammspielen und Spontan-Partys. Hochwasser, Humor, Hurricane.
Bosse holt sich die Energie bei seinem Team
Ausgerastet wird bei Bosse kurz vor dem Auftritt hingegen nicht. Im Gegenteil. Zu sich kommen ist angesagt. Konzentration. Sich sammeln. Mit der Band. Und im Inneren. Im Bus. Jenseits des Getöses. „Festivals sind immer auch die Chance, Leute zu erreichen, die mich noch nicht kennen“, sagt Bosse. Er will sich reinhängen. Das kostet Energie. Und die holt er sich mit und bei seinem Team.
Bevor es vom Dunkel der Hinterbühne an die sonnengeflutete Rampe geht, trifft sich die Band im Kreis. Kunstnebel und Anspannung liegen in der Luft. Die Runde murmelt, wird lauter, alle feuern sich an. Die letzten Jacken und Wasserflaschen werden Tourmanagerin Andrea Goedecke in die Hand gedrückt. Und dann geht es hinaus ins Licht. Der Jubel ist wie eine riesige Welle, die Bosse umspült. Er reißt die Arme hoch, tanzt, springt, schwitzt stark und wird sich später, zu „3 Millionen“, ins Publikum stürzen. Allertollste Energie entlädt sich. „Das hier ist zum Heulen schön!“, schreit er. Definitiv. Die Musik bewegt die Menge. Und Bosse selbst. Chöre. Am Leben sein. Und alles ist „Oohooohooo“.
„Das ist Adrenalin pur. Ein Schockmoment. Und eine große Freiheit. Im Kopf geht das Konzert vorbei, als seien es acht, höchstens zehn Minuten“, sagt Bosse über die ultimative Live-Emotion. Gefühlt umarmt Bosse jeden einzelnen Fan, der mit ihm schunkelt und singt und tobt. Zu Hits wie „Vier Leben“, „Dein Hurra“, „Schönste Zeit“.
Und nach der Euphorie? Bosse ist klatschnass. Er braucht eine ruhige Ecke, ein Malzbier, zwei Zigaretten. Und dann ist er auch schon zurück in der Realität. Fußball gucken, dann ein wenig Deichkind. Und ab nach Hause. „Heute wäre ein super Abend zum Feiern, aber morgen früh bin ich wieder Papa. Da stehe ich um sechs Uhr auf und bringe meine Tochter zur Schule“, sagt Bosse. Ein echter Star.