Hamburg. Seit dieser Spielzeit ist Günther Dramaturg am Thalia Theater. Derzeit steckt er in den Proben für „Das Schloss“.

Dramaturgen sind in der Regel kluge Köpfe, die sich über die Stücke, die Inszenierungen und die Wirkung auf die Zuschauer intensiv Gedanken machen. Ohne sie läuft nichts im Theater. Und manchmal müssen sie auch Feuerwehr spielen, wenn Dinge aus dem Ruder laufen. Matthias Günther ist seit dieser Spielzeit solch ein kluger Kopf am Thalia Theater, Julia Lochte, seine Frau, eine gebürtige Hamburgerin, kam zugleich als Chefdramaturgin, seine Vorgesetzte also, ans Haus. Beide haben sich mit ihren drei Kindern – zwei wohnen noch zu Hause – schon gut in der Hansestadt eingelebt. Günther strahlt eine Mischung aus verschmitzter Lässigkeit und Erfahrung aus, auf der Probe liebt er es bequem und sportlich.

Gerade erarbeitet Günther mit Regisseur Antú Romero Nunes „Das Schloss“ nach dem Romanfragment von Franz Kafka für die Premiere am 4. Juni im Thalia Theater. Das Vorhaben bezeichnet er als eine Art „Romanbegehung“, einen Gang durch die von Kafka geschaffene Textlandschaft auf der Suche nach „interessanten Lichtungen“. Wie sein Autor, der Intellektuelle Kafka, kommt Landvermesser K. mit dem Hochmut des Städters in eine verschlossene, archaische Dorfwelt. Angeblich soll er im benachbarten Schloss arbeiten, doch auf merkwürdige Weise bleibt ihm der Zugang durch eine undurchschaubare Hierarchie verwehrt.

Am Anfang der Proben stand die Auseinandersetzung mit der Leseerwartung des Zuschauers. „Da gibt es eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten und die Frage: Für was steht eigentlich das Schloss?“, erklärt Matthias Günther. „Kafka ist eine anstrengende Lektüre. Man kann sich immer auf die Traumlogik einigen, aber wir müssen da mit vielen Klischees umgehen.“ Häufig seien Sichtweisen auf den Stoff durch den Deutschunterricht während der eigenen Schulzeit geprägt. Das verstelle den Blick.

Im „Schloss“ treten starke Figurentypen auf, und wie gewohnt kann Nunes auf ein spielfreudiges junges Ensemble zurückgreifen. Mit zahlreichen Schauspielern ist er sehr vertraut, da wird vieles gemeinsam entschieden und entwickelt. In dem auf drei Teile angelegten Abend spielt die Dorfgemeinschaft eine wichtige Rolle. Sie lernte der Prager Kafka selbst kennen, als er aufgrund seiner Tuberkulose-Krankheit eine Zeit lang im böhmischen Dorf Zürau bei seiner Schwester Ottilie wohnte. „Die Dorfgesellschaft versucht sich den Landvermesser vom Leib zu halten, denn diese Figur steht für mögliche Veränderungen der Parzellen und bedeutet höchste Gefahr“, sagt Günther. Auch innerhalb des Dorfes gibt es Ausgrenzung, etwa im Fall der Familie des Boten Barnabas. Weil Tochter Amalia sich gegen Avancen der Schlossbeamten wehrt, ziehen sich die Bewohner von der Familie zurück. Wichtige Informationen liefern K. die Frauenfiguren, etwa Frieda, die im Ausschank der Dorfkneipe arbeitet und die Geliebte des Schlossbeamten Klamm ist. „Kafka macht dann besonders Spaß, wenn man ihn ganz einfach nimmt und nicht zu sehr auflädt mit einer metaphysischen Wolke“, so Matthias Günther. „Der Text ist schwer zu verstehen, da gibt es so viele Aspekte, das Judentum, die Biografie, die Krankheit, den Heiratsschwindler, den Sohn, der von zu Hause nicht wegkommt, den Intellektuellen mit Spaß am Experiment.“ Das alles habe auch mit unserer heutigen Welt zu tun, in der es immer noch große Differenzen gebe zwischen der aufgeklärten Stadtbevölkerung und dörflichen Gesellschaften.

Günther hat Kafkas lange, kunstvolle Dialoge komprimiert. Nunes, mit dem er bereits „Die Dreigroschenoper“ erarbeitet hat, wird wie gewohnt auch Slapstick und Pantomime, intern „Antumime“ genannt, als Mittel nutzen.

Eigentlich hatte sich Matthias Günther niemals vorstellen können, am Stadttheater zu landen. 1963 in Kassel geboren, hatte er früh eine eigene Theatergruppe, arbeitete nach dem Studium der Kulturwissenschaft und der ästhetischen Praxis in Hildesheim als Schauspieler und Regisseur. Er sei geprägt vom Theater der 1980er-Jahre, von Peter Stein an der Berliner Schaubühne und Claus Peymann in Bochum. „Die Schauspielkunst steht für mich im Zentrum des Theaters“, sagt Günther. „Allerdings habe ich Formen des Literaturtheaters und bestimmte Formen ihrer bürgerlichen Repräsentation zunehmend infrage gestellt.“

Günther war viele Jahre Dramaturg an den Münchner Kammerspielen

Als Fachbereichsleiter Theater in der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel traf Günther auf den auch in Hamburg schon mehrfach aktiven Regisseur Stefan Bachmann, der damals für eine Produktion bei den Wiener Festwochen mit neuen Formen experimentierte. Seitdem sei er Dramaturg mit großer Leidenschaft und Lust. Über eine erfolgreiche Zeit am Theater Basel kam er 2006 an die Münchner Kammerspiele, wo er bis 2015 unter anderem mit Stefan Pucher, Luk Perceval und Andreas Kriegenburg zusammenarbeitete.

Der Altersdurchschnitt des Ensembles lag dort deutlich höher. Und das ist auch etwas, was Günther hier in Hamburg genießt. „Mir macht es große Freude, bestimmte Spielformen und Spielweisen kennenzulernen, die diese junge Generation für sich gefunden hat“, erklärt er. „Das Thalia-Ensemble hat eine unglaublich hohe Qualität und arbeitet sehr selbstständig.“ Günthers Liebe zu Performance, Tanztheater, bildender Kunst und Musik ist geblieben – und zeigte sich etwa in der Inszenierung von Orhan Pamuks „Schnee“, die er mit dem Regietalent Ersan Mondtag im Thalia in der Gaußstraße erarbeitete. Bei diesen Mischformen sei es wichtig, das Publikum mitzunehmen, ihm das Verständnis zu erleichtern. Matthias Günther ist Vermittler aus Leidenschaft. Und immer da – auch wenn es mal brennt.

„Das Schloss“ Premiere 4.6., 20.00, Thalia Theater, Alstertor, Karten zu 10,- bis 52,- unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de