Hamburg. Zum Musikfest-Finale präsentierte NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock die vier Brahms-Sinfonien mit einigen Überraschungen.

Vier Sinfonien, 16 Sätze, netto insgesamt etwa so lang wie eine flott heruntergewagnerte „Götterdämmerung“. Das ist von professionellen Orchestern durchaus ohne Konditionskollaps zu schaffen – wird aber dennoch nur selten angeboten, weil diese Rundreisen durch repräsentative Werkkatalog-Abschnitte immer auch etwas vordergründig Circensisches haben können. Die schlimme TV-Mitschnitt-Beleuchtung, mit der die „Vier ab vier“-Brahms-Langstrecke von Chefdirigent Thomas Hengelbrock und dem NDR Elbphilharmonie Orchester mit André-Rieu-Pastellfarben verstrahlt wurde, linderte diesen leicht spektakeligen Eindruck am Sonntag eher nicht.

Als ersten Teil vom Doppel-Finale des regulären Musikfest-Programms hatte Hengelbrock am Vorabend etliche Stunden Kammer- und Chormusik vorgestellt, um die Event-Mischung aus Lokalheiligtum und sehr sicherer Nummer noch stärker zu betonen. Man durfte also, allen guten Vorsätzen zum Trotz, auch skeptisch sein. Ein Eindruck, der sich im Großen Saal der ­Laeiszhalle erst später am Sonntagabend verabschiedete, um durch Interesse am Detailgeschehen abgelöst zu werden. Denn die Erste und die Zweite waren in ihrer gediegen polierten Eindeutigkeit und Popularitätsbedienung keine allzu großen Überraschungen, sondern im Grunde genommen: Brahms as usual. Fleißsterne sammeln.

Das Klangbild war speziell

Gerade das NDR-Orchester, zu dessen Repertoire-DNA sie seit Jahrzehnten gehören, kann diese Publikumslieblinge im Schlaf abspulen. Und so dirigierte Hengelbrock sie: saftig, prall, mit breitem Pinsel nachdrücklich dahingemalt, mit dem robusten Aufbruchs-Schwung eines Frühwerks, das sie eindeutig nicht sind. Doch schon hier zeichnete sich ab, was Hengelbrocks Grundkonzept für dieses Doppel-Konzert sein sollte: Je bekannter, desto langsamer. Insbesondere das Finale der Ersten floss deutlich gebremster elbabwärts, als es das Gewohnheits­gedächtnis abgespeichert hat.

Kann sein, dass anschließend die Betriebstemperatur des Orchesters für die deutlich differenziertere Heraushörbarkeit in der Dritten und Vierten sorgte. Womöglich lag es aber auch schlicht daran, dass der Rezensenten-Sitzplatz im zweiten Konzert ein Upgrade von Reihe 9 zur Reihe 13 erhalten hatte, in jene akustische Komfortzone also, in der der Gesamtklang viel wärmer und runder wirkt als auf den Rasursitzen weiter vorn. Das Klangbild war ohnehin speziell, da die Kontrabässe wohl wegen der seitlichen Scheinwerfer-Aufbauten auf der Bühne nach Mitte hinten verschoben waren.

Der Abend hat sich mehr als gelohnt

Nun jedenfalls passierte etwas, mit und im Orchester. Nun wurde klarer, welche charakterliche Entwicklung der Spät-Symphoniker Brahms durchlaufen hatte, wie sein Personalstil als Erzähler mit eigenen Noten immer konziser und zartherber wurde. Die Feinmischung der Holzbläser stimmte in sich schlüssiger, das Tutti atmete und wurde zu einem Klangkörper.

Die eindrücklichste, überraschendste, interessanteste und nachdenkenswerteste Passage des Vier-Stunden-Konzerts kam im dritten Satz der Dritten. „Lieben Sie Brahms?“ und so. Hier drosselte Hengelbrock das Poco allegretto-Tempo sehr, sehr weit hinunter, auf ein zutiefst melancholisches, sanft verträumtes und in Zeitlupe tänzelndes Abschiedstempo, das den Charakter dieses Satzes subtil verschattete, verzauberte und ganz neu entdecken ließ. Für diese Handvoll Minuten – eingebettet in viel Schönes, aber wenig Neues – hatte sich der Abend mehr als gelohnt, weil sie zeigten, wie große Wirkungen kleine Ursachen auslösen können. Wenn man sich traut, den Blickwinkel auf die Welt einmal zu ändern.