Der 68-Jährige ist in „Unterwerfung“ das Theaterereignis der Saison. Ein Gespräch über Erfolg, Einsamkeit und die Böhmermann-Affäre.
Er sieht ein wenig müde aus. Eine Vorstellung am Vorabend, eine an diesem. Jeweils drei Stunden Monolog – das kostet Kraft. Körperlich, emotional, geistig. Edgar Selge, 68, lächelt: „Zum Auftritt bin ich wieder ganz da.“ Es muss so sein. Keine Theaterinszenierung der Saison ist so erfolgreich wie „Unterwerfung“, die Bühnenadaption des Houellebecq-Romans am Deutschen Schauspielhaus. In einem furiosen Monolog spielt und kommentiert Selge darin Houellebecqs Figur, Kritiken und Zuschauerreaktionen waren und sind überwältigend, Karten schwer zu bekommen. Die Intendantin Karin Beier, die auch Regie führte, bietet sogar Stehplätze an. Während des Gesprächs in seiner schlichten Theatergarderobe – Tisch, Bett, Kostüme – zeigt sich Edgar Selge aufgeräumt, sehr zugewandt, interessiert. Er macht viele Pausen, will genau sein. Und hat einen hohen Verbrauch an Halspastillen.
Hamburger Abendblatt: „Triumph“, „Bühnenereignis der Saison“, jeden Abend Jubelrufe, Bravos, Standing Ovations – was machen solche Superlative mit einem Schauspieler?
Edgar Selge : Ich nehme das alles weniger wahr, als Sie vielleicht vermuten. Ich registriere natürlich, dass der Abend positiv aufgenommen wird, und das ist mir auch wichtig. Klar. Ich sehe, dass es ratzeputz voll ist, ich habe den Eindruck, dass die ganze Veranstaltung für die Leute eine persönliche, aber auch eine gesellschaftliche Relevanz hat. Als Motivation ist das gut. Dass dieser Abend funktioniert, heißt für mich, dass sich die Riesenarbeit gelohnt hat. Gerade in einem Monolog ist ja das Publikum mein Partner. Wenn die Leute nicht voll an meine Sätze andocken würden, dann wäre das ... sehr schade.
Das klingt bescheiden. Besteht nie die Gefahr, dass besonders euphorische Kritiken oder Reaktionen – ebenso wie besonders negative – das Spiel des Schauspielers ungewollt beeinflussen?
Selge : Mir kommen die Vorstellungen eher vor wie siamesische Zwillinge. Natürlich spielt die Tagesform eine Rolle. Aber diese Riesenmassen an Text funktionieren nur, weil die einzelnen Abschnitte sehr genau vorausgedacht sind und von mir sehr genau erfüllt werden. Hinzu kommt, dass ich nach jeder Vorstellung ein Exemplar des Stückes bekomme, in dem die Souffleuse auf meine Bitte hin alle Stellen unterstrichen hat, an denen ich vom Original abgewichen bin. Damit aus diesem Mauerwerk der Arbeit nicht einzelne Steine herausbrechen.
Das Üben, das Proben ist für Sie also mit der Premiere nicht beendet?
Selge : Ich übe weiter. Mir steht in München eine Kollegin vom Residenztheater zur Verfügung und natürlich „meine“ Souffleuse hier in Hamburg am Schauspielhaus. Je nachdem, wo ich am Tag vor der Vorstellung bin, gehen wir den gesamten Text einmal konzentriert durch. Das sind etwa drei Stunden. Und das bedeutet, wenn ich hier in Hamburg fünf oder sechs Vorstellungen im Monat spiele, dann sind zwölf Tage für diese Arbeit „besetzt“. Das heißt, ich kann nebenbei nicht mehr so viel machen.
Spielen Sie denn andere Stücke parallel? Drehen Sie momentan?
Selge : Ich spiele in Stuttgart noch den „Zerbrochnen Krug“ und „Peer Gynt“. Aber ich kann nichts drehen oder proben. Nichts. Ich habe eine große Rolle bei den Festspielen in Salzburg abgesagt, weil ich nicht die Möglichkeit habe, mich darauf vorzubereiten. Und weil ich im Juni, wenn hier die letzte Vorstellung vor den Theaterferien gespielt ist, auch wirklich Urlaub brauche.
Diese Arbeit für „Unterwerfung“ ist, scheint es, keine Theaterarbeit wie jede andere für Sie.
Selge : Nein, sie besetzt mich anders als andere. Sie nimmt mich total in Anspruch und füllt mich restlos aus.
Woran liegt das – abgesehen von den Textmassen? Ist die emotionale Herausforderung auch eine besondere?
Selge : Das kann ich nicht voneinander trennen. Solche Textmassen kann man nur bewältigen, indem man die Geschichte, um die es geht, ernst nimmt. Dem muss man sich total zur Verfügung stellen. Ich steige jeden Abend mit Geist und Seele und Körper ein. Ich spüre im Nacken diese Geschichte, die mir am Anfang des Abends noch ganz undeutlich ist und die ich dann Satz für Satz zwischen das Publikum und mich bringen muss, und am Ende spüre ich eine Art Figur, die ich im Lauf des Abends geworden bin. Aber nur kurz. Wenn dann der Applaus kommt, spült der alles wieder weg.
Zum Glück?
Selge : ( lacht) Ja. Dann kehre ich wieder als „Nichts“ in die Garderobe zurück.
Was machen Sie nach so einem Abend, nach so einem Applaus? Wie werden Sie aufgefangen?
Selge : Es sind immer Menschen in der Vorstellung, die ich kenne, Freunde, Bekannte, Verwandte, die über mich Karten bestellt haben. Ich merke daran, dass mein Freundes- und Verwandtenkreis ziemlich groß ist! Die treffe ich also hinterher. Die sprechen dann auch, und ich muss nicht mehr sprechen.
Sie möchten nicht mehr sprechen – aber auch nicht allein sein.
Selge : Ich möchte nicht allein sein. Der Applaus schützt und erlöst etwas in mir. Eine Riesenanspannung fällt nach der Vorstellung ab. Das, was ich da zeige, ist ja eine negative Utopie mit einem negativen Helden, der sich zu einem starken Opportunisten entwickelt und damit etwas anstößt, das in jedem Zuschauer auch vorkommt. Nämlich die Angst vor einer sich nahenden „weichen Diktatur“ – und die Frage: Wie würde ich mich verhalten? Bin ich eher Widerstandskämpfer oder suche ich nach meinem persönlichen Vorteil?
Fragen, die man sich selbst im Dunkel des Parketts vielleicht ehrlicher beantwortet?
Selge : Fragen, die man in einer normalen Diskussion schwer erörtern kann. Nicht nur aus Verlogenheit, sondern weil man sich gar nicht erst selbst damit konfrontieren würde. Das ist das Tolle an einem Roman oder am Theater, dass es jenseits der gesellschaftlichen Spielregeln und Rücksichtnahmen den Einzelnen anspricht. Dass eine persönliche, intime Beziehung aufgebaut wird zwischen Autor und Leser oder eben Schauspieler und Zuschauer. Diese Diskussion, die ja anschließend oft weitergeht, muss ich anstoßen. Das ist eine Riesenaufgabe, die mich total ausfüllt. Das Ende der Vorstellung erlöst mich aber auch aus einer Einsamkeit.
Ein Monolog ist keine gesellige Sache.
Selge : Es ist SO einsam! Auch in der Vorbereitung. Dabei hatte ich während der Proben einen tollen Arbeitskontakt zu Karin Beier, meiner Regisseurin. Sie war ja lange Zeit mein einziges Publikum. Und sie hat sich als Publikum total zur Verfügung gestellt und war ein wunderbarer, inspirierender Spiegel. Aber seit der Premiere ist sie ja nicht mehr da, das fehlt mir. Diese Arbeit bringt mich in einen ganz anderen Einsamkeitstunnel als andere Arbeiten.
Kannten Sie den Roman, bevor das Angebot von Karin Beier kam?
Selge : Ja. Ich war immer ein Houellebecq-Leser. Es kommt in der „Unterwerfung“ die schöne Passage vor: „Ein Buch, das man mag, ist ein Buch, dessen Autor man mag, dem man gern begegnet. Also, in seinen Büchern.“
„In seinen Büchern“ – ein hübsch
subtiler Nachtrag ...
Selge : Ja. (lächelt) Der ist von mir, nicht von Houellebecq. Houellebecq sagt weiter: „Ob er gut schreibt oder schlecht, ist zweitrangig.“ Und dann: „Hauptsache ist, dass er schreibt.“ Es gibt ähnliche Sätze von Knausgård, den ich ebenfalls verehre. Houellebecq und Knausgård, zwei Menschen, die mit ihren Romanen tief in die gesellschaftliche Gegenwart eintauchen. Beide denken explizit nach über die Beziehung Autor/Leser. Und als Karin Beier mich anrief und fragte, ob ich mir diese Arbeit vorstellen könne, habe ich sofort zugesagt.
Karin Beier hat, gemeinsam mit ihrer Dramaturgin Rita Thiele, die Theaterfassung erstellt. Waren Sie beteiligt?
Selge : Wir haben gemeinsam Striche vorgenommen und ich habe mich für die beiden Sexszenen eingesetzt, die jetzt drin sind.
Warum war Ihnen genau das so wichtig?
Selge : Houellebecq gibt diesem Thema die Wichtigkeit, die es gesellschaftlich nun einmal hat. Ob Sex diese Wichtigkeit für den Einzelnen hat, ist eine ganz andere Frage.
Wie viele Seiten Text hatten Sie
am Ende? 40? 50?
Selge : 43 DIN-A4-Seiten. Und glauben Sie mir, ich wollte keine einzige Zeile lernen, die ich nachher wieder weglassen muss!
Wie lernen Sie diese Massen?
Selge : Jeden Tag eine Seite. Manchmal, wenn ich das Buch gesehen und aufgeschlagen habe, hätte ich schon kotzen können. Ich habe Ohrenschmerzen bekommen! Als würde ich den Text nicht mehr hören wollen. Die Sätze sind komplex. Alle Gedanken, die da gesagt werden, müssen vorher einmal gedacht sein. Als wir mit den Proben begonnen haben, konnte ich den Text. Den gesamten Text.
Sie sind ein disziplinierter Mensch.
Selge : Ja. Ich habe die Dinge gern unter Kontrolle.
Nicht verkehrt, wenn man einen Drei-Stunden-Abend allein stemmen muss.
Selge : Das Risiko des Spielens ist mir so bewusst. Man steht da so nackt. Tolle Momente, aber um diese absolute Nacktheit auszuhalten, vor der Kamera oder auf der Bühne, brauche ich auf der anderen Seite Disziplin und Kontrolle.
Wie läuft ein Tag bei Ihnen ab, an dem Sie Vorstellung haben? Ist das wie bei einem Sportler? Essen Sie bestimmte Dinge oder andere nicht?
Selge : Ich bin allein. Ich versuche wenig zu sprechen. Dass wir beide heute, jetzt, am Tag einer Vorstellung, ein Gespräch miteinander führen, ist eine absolute Ausnahme. Ich liege viel im Bett. Schaue mir die Textfehler der letzten Vorstellung an und versuche, nicht so aufgeregt zu sein.
Haben Sie noch immer Lampenfieber?
Selge : Ja! Ich arbeite daran, meinen Mut zu behalten. Ich mache „Grinberg-Übungen“, eine israelische Atemtherapie, die etwas mit muskulärer Anspannung und Entspannung zu tun hat und mit Hyperventilation. Damit kann ich mich stundenlang beschäftigen. Im Theater bin ich dann etwa eine Stunde vor der Vorstellung. Um mich umzuziehen und meinen Kopf leerzumachen. Leer. Einfach nur leer.
Houellebecq schildert ja, wie sich die Gesellschaft einem gemäßigten Islam zuwendet, wie die Frauen aus dem öffentlichen Leben verschwinden, wie die Vielehe eingeführt wird. Finden Sie, dass man nach der Lektüre anders über den Begriff der Toleranz nachdenkt?
Selge : Ja, man denkt darüber nach, ob man es nicht übertrieben hat mit der Demokratie, um es mal provokativ zu formulieren. Ein aktiver Demokrat zu sein, ist sehr, sehr anstrengend. Das bedeutet nämlich, immer auch das Gegenteil mitzudenken von dem, was man selbst möchte, die Machtfrage immer wieder neu zu stellen. Demokratie macht das Leben kompliziert. Ich würde sagen, dass wir uns unserer abendländischen, christlichen, humanistischen Kultur sehr unbewusst sind. Im Grunde sind wir alle lauwarm. Houellebecq spielt die Aufklärung gegen das Christentum aus. Das Christentum habe es nicht geschafft, sich den Menschen untertan zu machen. Eine Provokation.
Houellebecq selbst sagt, sein Buch, diese negative Utopie, sei eine Satire. Weil die Frage gerade so beliebt ist: Was darf Satire? Tatsächlich alles?
Selge : Nein. Aber in der Satire und in der Kunst gelten nicht die Regeln des sozialen Verhaltens, der Rücksichtnahme, der Höflichkeit. Ich glaube übrigens, Houellebecq will diese Utopie selbst nicht, die er schildert. Aber in seiner Argumentation verschwimmen sicher manchmal Rolle und gespielte Rolle und das Houellebecq-Ich.
Haben Sie die Böhmermann-Affäre
verfolgt?
Selge : Ja. Und ich habe meine Haltung mehrmals geändert. Anfangs fand ich dieses Schmähgedicht idiotisch, rassistisch und unterste Schublade. Nach den Reaktionen der Bundesregierung merke ich, dass ich Böhmermann plötzlich in Schutz nehme. Es gibt einen Satz von Nietzsche: Die Kunst hat die Aufgabe, den Staat zu vernichten. Auch dieses Gedicht ist ja ein Ventil für viel Wut, die sich in Europa angestaut hat. Das hat eine Existenzberechtigung, dieses Ventil muss funktionieren dürfen. Man kann das nicht als Beleidigung im sozialen Bereich verstehen. Und ganz nebenbei: Wenn jemand sich so menschenverachtend verhält, wie die türkische Regierung zum Beispiel gegenüber Journalisten, und sich dann darüber beschwert, dass sie selbst Gegenstand einer Satire wird, ist das grotesk. Da rangiert die Wut über einen geschriebenen Satz höher als die Wahrnehmung von Menschen, die unschuldig ins Gefängnis geworfen werden und ihre Arbeit nicht machen können. Grotesk.
Kann man ein Stück wie dieses spielen, ohne eine politische Haltung zu haben?
Selge : Ich kann grundsätzlich nicht Theater spielen, ohne eine politische Haltung zu haben. Danach wähle ich auch meine Rollen und Engagements aus.
Ein Sendungsbewusstsein?
Selge : So würde ich das nicht nennen. Aber ich will eine gesellschaftliche Position beziehen. Ich möchte als Schauspieler ja nicht bloß Transportmittel für die Ideen des Autors oder des Regisseurs sein. Die Qualität eines Schauspielers entwickelt sich für mich nicht darüber, ob man hübsch Brüche spielen oder schnell weinen kann.
Haben Sie Houellebecq eigentlich
je getroffen?
Selge : Er ist eingeladen worden, aber nicht gekommen. Ich weiß auch gar nicht, ob ich ihn gern kennenlernen möchte. Vielleicht. „Ein Buch, das man mag, ist ein Buch, dessen Autor man mag, dem man gern begegnet. Also, in seinen Büchern.“ Ich spreche nicht so gut Französisch, ich bin kein Raucher und ich trinke auch nicht so wahnsinnig viel. Lassen wir es doch dabei. Ich begegne ihm gern. In seinen Büchern.