Hamburg. „Der Überläufer“ führt die „Spiegel“-Bestsellerliste an. Ein Gespräch mit seinem Hamburger Verleger, der mit dem Drucken kaum noch nachkommt.
Die erstaunliche Geschichte um den viele Jahre unbekannten und Anfang März veröffentlichten neuen, alten Lenz-Roman geht weiter. Am Wochenende steht das 1951 von Lenz fertiggestellte, aber jahrzehntelang nicht veröffentliche Antikriegsbuch „Der Überläufer“ auf Platz eins der „Spiegel“-Bestsellerliste. Die erste Auflage ist längst weg, der Roman von Siegfried Lenz (1926–2014) schickt sich an, einer der größten Erfolge der jüngeren Geschichte von Hoffmann und Campe zu werden. Wir sprachen mit Verlagsleiter Daniel Kampa.
Leitartikel: Das unsterbliche Buch
Hamburger Abendblatt: Die Startauflage lag bei 50.000, jetzt drucken Sie bereits zum zweiten Mal nach. Sind Sie überrascht vom Interesse an „Der Überläufer“?
Daniel Kampa: Wir drucken sogar zum vierten Mal nach und nähern uns der 100.000er-Marke. Das Interesse überrascht uns nicht, denn ein neues Buch von Siegfried Lenz war immer schon ein Ereignis. Als wir im Herbst 2015 „Das Wettangeln“, die letzte Erzählung von Lenz, in einer von Nikolaus Heidelbach illustrierten Ausgabe veröffentlichten, schaffte es dieses Buch auch auf die Bestsellerliste. Aber der jetzige Erfolg des „Überläufers“ ist noch überwältigender – auch für Siegfried Lenz, dessen letzter großer Erfolg die „Schweigeminute“ im Jahr 2008 war. Damals schaffte es die Novelle aber nur auf Platz zwei. Auf Platz eins hat Lenz es bislang nur mit seinem Roman „Die Deutschstunde“ geschafft, die am 16. Dezember 1968 die Spitzenposition eroberte. Mit dem 65 Jahre alten „Überläufer“ führt also nach fast 50 Jahren wieder ein Buch von Siegfried Lenz die Bestsellerliste an. Was für ein Glück! Oder wie seine Witwe Ulla Lenz am Donnerstag, als ich ihr die freudige Nachricht überbrachte, sagte: „Wenn das der Siegfried noch erlebt hätte!“
Wie erklären Sie sich den Erfolg?
Kampa : In diesem Roman steckt schon der ganze Lenz – ebenso sprachlich wie auch stofflich. Es ist ein Frühwerk, in dem eine direkte Verbindung zu späteren Meisterwerken wie „So zärtlich war Suleyken“ und „Die Deutschstunde“ erkennbar ist. Das Grundthema im Werk von Lenz, im „Überläufer“ steht es bereits im Zentrum, ist der Konflikt zwischen Pflicht und Gewissen, der Zwiespalt zwischen Handeln und Schuld. Und man ist nach der Lektüre erstaunt und wundert sich: Wie konnte ein junger Mensch im Alter von knapp 25 Jahren solch einen Roman schreiben? In der Regel findet man in Nachlässen Fragmente oder Frühwerke, die ein Autor – oft zu Recht – nicht veröffentlichen wollte. „Der Überläufer“ ist genau das Gegenteil: Der Roman war komplett abgeschlossen, Lenz wollte ihn veröffentlichen – aber der Verlag nicht. Und das macht die Sache spannend: Was waren die Gründe, die die Veröffentlichung verhinderten? Die Nicht-Publikationsgeschichte des „Überläufers“ sagt sehr viel über die Befindlichkeiten im Nachkriegsdeutschland aus – und weist auf ein weiteres zentrales Thema im Werk von Lenz hin: die Vergangenheitsbewältigung oder eben -verdrängung. Und zuletzt gibt es noch eine ganz einfache, aber entscheidende Erklärung für den Erfolg: die Qualität des Romans. Dem „Überläufer“ merkt man nicht an, dass er vor 65 Jahren verfasst wurde, der Roman ist wunderbar geschrieben und hochspannend. Es ist ein Buch, das den Leser auch nach der letzten Seite nicht loslässt.
Bei dem nun wieder groß aufgeflammten Interesse an Lenz – womit könnte Hoffmann und Campe dem Leser noch dienen? Auch neben etwaigen weiteren bislang unveröffentlichten Arbeiten?
Kampa : Einen weiteren unveröffentlichten Roman von Siegfried Lenz gibt es leider nicht, aber es ist durchaus möglich, dass in Lenz’ Nachlass im Literaturarchiv Marbach unveröffentlichte Erzählungen auftauchen. Ein frühes Reisejournal und frühe Gedichte wurden bereits gefunden, wann sie veröffentlicht werden, ist aber noch offen.
Mit Lenz und Schmidt haben Sie zwei Auflagenkönige verloren, deren Bücher weiter viel gelesen werden. Inwiefern plant HoCa da weitere Umsätze ein?
Kampa : Es gehört zu den schönsten Aufgaben eines Verlags, die Erinnerung an seine großen Autoren zu wahren und so gut wie nur möglich zu pflegen. Das wollen wir auch mit den Werken von Siegfried Lenz und Helmut Schmidt so handhaben.