Der Lenz-Roman verkauft sich 100.000-mal in kurzer Zeit. Das spricht für die Lesekultur

Ganz scharfsinnige Kommentatoren sagen, das Buch würde sowieso nie aussterben – schließlich können diejenigen, die beim Geschenkekauf wenig inspiriert sind, immer noch in der Buchhandlung fündig werden. Da findet man immer etwas, digitale Wende hin oder her.

Ein Geschenk ist ein gutes Buch auch im übertragenen Sinn. Ein Buch wie „Der Überläufer“ zum Beispiel, jener im Nachlass von Siegfried Lenz gefundene Antikriegsroman, dessen Entstehungsgeschichte allein schon bemerkenswert ist. Weil sein Held ein Soldat ist, der von der Wehrmacht zu den Russen überlief, erschien es seinem Verlag Hoffmann und Campe nicht opportun, das Lenz-Buch in den ideologisch geprägten 50er-Jahren erscheinen zu lassen.

Jetzt steht genau dieser Roman auf Platz eins der „Spiegel“-Bestsellerliste – sechseinhalb Jahrzehnte, nachdem er im Privatarchiv des großen Erzählers Lenz verschwand. Annähernd 100.000-mal ist der Roman jetzt schon gedruckt und fast ebenso oft verkauft worden. Und das in nicht einmal zwei Wochen, die er auf dem Markt ist. Was anspruchsvollere Literatur angeht, ist das in dieser Dimension ein außergewöhnlicher Vorgang.

Und doch kein ganz exotischer. Solche Erfolge wie der von Lenz sind eine Bestätigung für all diejenigen, die von der pessimistischen Klage um das Abnehmen der Lesekultur nichts hören wollen, weil sie ihrer Meinung nach der Grundlage entbehrt. Die Leute lesen unvermindert physische und – ja: auch das – elektronische Bücher, weil sie ihnen etwas über die Welt erzählen, die gegenwärtige und die vergangene. Weil sie auch einfach mal nur unterhalten, dabei aber immer etwas einfordern, was im Klick-und-Zapp-Zeitalter ein rares Gut geworden ist: Konzentration, Sammlung, Intimität. Beim Lesen findet man zu sich selbst, so pathetisch das klingen mag. Und man findet sich dennoch bisweilen mit Gleichgesinnten zusammen, denn auch wenn Literatur keine Performance-Kunst ist, so ist sie doch auch eine Sache der Inszenierung.

Beispiel gefällig? Joachim Meyerhoff! Der Schauspieler und Schriftsteller macht ganze Theatersäle voll, wenn er aus seinen autobiografischen Büchern liest. Seine Lesereisen sind umjubelt, und das liegt auch daran, dass das schriftstellerische Werk des Bühnen-Manns Meyerhoff ursprünglich auf einem Theaterprojekt beruht. Meyerhoff macht Literatur zum Schau-Ereignis. Und umgekehrt kaufen die Menschen, die ihn auf der Bühne gesehen haben, zusätzlich seine Bücher.

Die Rückkehr des „Literarischen Quartetts“, die Gründung neuer Buch-Beilagen von Zeitschriftentiteln, die weltweite Verehrung, die so unterschiedlichen Autoren wie J.K. Rowling, George R.R. Martin und dem kürzlich verstorbenen Umberto Eco entgegenschlägt: Die Zeichen stehen gut für die Sache der Literatur. Kommende Woche trifft sich die Branche bei der Buchmesse in Leipzig. Sie wird dort über weitgehend stabile Umsatzzahlen sprechen, sie wird die Verlagsprogramme des Herbstes planen, sie wird Preise vergeben und sich zu Recht auch ein wenig selbst feiern. Dennoch darf sie nicht außer Acht lassen, dass die durch das Internet noch gesteigerte Medienkonkurrenz im Hinblick auf die Literaturförderung besonders bei ganz jungen Lesern nicht nachlassen darf.

Nur dann wird es auch in einigen Jahrzehnten noch viele Leser geben und Bestsellerlisten, die diesen Namen verdienen. Auf der aktuellen sind im Übrigen, dieser lokalpatriotische Suchbefehl sei erlaubt, mit Lenz (Platz 1), Heinz Strunk (Platz 5), Dörte Hansen (Platz 8), Joachim Meyerhoff (Platz 11) und Isabel Bogdan (Platz 15) gleich fünf Hamburger.