Hamburg. „Guillaume Tell“: Der Zürcher Roger Vontobel inszeniert das Rossini-Werk. Sein erstes Opernprojekt könnte schweizerischer kaum sein.

Der Regisseur sieht aus, als käme er gerade vom Berg: Das Haar wogt um den Kopf, er trägt Daunenjacke, einen gut verschnürten Rucksack und Wanderschuhe mit beeindruckendem Profil. Aber Roger Vontobel wehrt gut gelaunt ab: „Das ist nur meine Fahrradkluft.“ So viel zum Klischee; auch Schweizer kraxeln nicht unausgesetzt in der Höhe herum. Schon gar nicht Vontobel. Der hat in Hamburg Schauspielregie studiert, inszeniert regelmäßig am Schauspielhaus und wohnt mit seiner Familie in Bochum.

Sein erstes Opernprojekt könnte hingegen schweizerischer kaum sein: Vontobel, Jahrgang 1977 und mit den renommiertesten Theaterpreisen ausgezeichnet, führt an der Staatsoper Regie bei „Guillaume Tell“, Gioachino Rossinis Lesart des Schweizer Gründungsmythos. Der Regisseur ist Schweizer, die Bühnenbildnerin Muriel Gerster ebenfalls und Staatsopernintendant Georges Delnon sowieso – ob das bei der Stückauswahl eine Rolle gespielt hat? Nein, sagt Vontobel: „Georges Delnon und ich haben schon in seiner Basler Zeit über gemeinsame Schauspiel-Projekte nachgedacht, es hat sich nur nie etwas ergeben. Aber natürlich hat mich die Wahl des Stücks beflügelt. Die Produktion ist eine Gelegenheit, mich mit dem Mythos einmal richtig auseinanderzusetzen. Als Schweizer wächst man mit Wilhelm Tell ja quasi auf. Das prägt schon.“

Drei Kantone, grundverschieden, aber geeint in ihrem Widerstand gegen die Fremdherrschaft, das ist wirklich ein knorriges Narrativ. Seine Nachwirkungen sind regelmäßig bei den Volks-abstimmungen zu besichtigen. Immerhin haben die Eidgenossen am vergangenen Wochenende die Verschärfung der „Ausschaffungsinitiative“ (dabei geht es um die Ausweisung rechtskräftig verurteilter Ausländer) gestoppt. Ein strenges Gesetz, nach dem bisher noch nicht gehandelt wurde, kommt trotzdem – ein Fanfarenstoß für die erstarkende Rechte in Europa im Angesicht der Flüchtlingsbewegungen.

Insofern ist die Schweiz nur eine Chiffre und der „Tell“, wie Vontobel ihn deutet, das Stück der Stunde, auch wenn der Regisseur sich nicht ausdrücklich auf die politische Gegenwart bezieht. Wie das zugrunde liegende Schiller-Drama „Wilhelm Tell“ zeichnet auch das Libretto die Titelfigur als strahlenden Helden, Stichwort Apfelschuss und Rütli-Schwur. Bei Vontobel dagegen ist Tell ein alternder Museumsrestaurator (verkörpert vom Bariton Sergei Leiferkus), wobei das Wort Restauration gleich im doppelten Wortsinne mitschwingt. Tell ist nämlich mit der Restaurierung des zimmerhohen Ölgemäldes „Die Einmütigkeit“ des Schweizer Malers Ferdinand Hodler betraut, das auf den Mythos Bezug nimmt. Restauration im politischen Sinne bedeutet aber auch die Wiederherstellung eines vormaligen Zustandes, meist liebgewordener Machtverhältnisse. In diesem Sinne bekämpft Tell nicht nur die Habsburger, sondern zugleich die Idee eines friedlichen Zusammenlebens der Völker als solche.

„Für mein Empfinden hat Rossini den Tell als zwiespältig geschildert“, sagt Vontobel. „Der Schluss etwa ist musikalisch so überzogen, da hört man die zweite Ebene durch den Befreiungsjubel des Librettos deutlich hindurch. Mir kommt die Musik an der Stelle vor wie ein Verstärker, den man zu weit hochgezogen hat, sodass er anfängt zu verzerren.“

Tell singt bei Rossini meist im Ensemble. Ein Mann des Volkes eben. Ins Zentrum des musikalischen Geschehens rückt der Komponist dagegen Tells Mitverschwörer Arnold Melchtal (seinen Part übernimmt der Tenor Yosep Kang) und die habsburgische Prinzessin Mathilde (die Sopranistin Guanqun Yu). Die beiden besingen ihre unmögliche Liebe in Romanzen, Arien und Duetten von schwindelerregender Virtuosität.

Wer will, kann in dieser Gewichtung durchaus eine Parteinahme des Komponisten erblicken. Dem Genre der Grand Opéra, dem „Guillaume Tell“ angehört, waren politische Untertöne nicht fremd. Die Grand Opéra bediente das neue Selbstbewusstsein des Bürgertums mit ihren Sujets mal subtiler und mal direkter – und die Liebe des Publikums zur Prachtentfaltung mit aufwendigen Bühnenbildern und Kostümen, spektakulären Chor-Tableaux und Balletteinlagen.

Dem Genre entsprechend hat Rossini das Werk fünfaktig angelegt. Doch wie so viele Opern ist auch diese immer wieder umgearbeitet worden. Eine dreiaktige Fassung hatte der Kompo-nist noch selbst erstellt, andere geschahen gegen seinen Willen. Für Hamburg hat man das Stück um eine Stunde auf etwa dreieinhalb Stunden gekürzt. Die Federführung hatte der musikalische Leiter, Gabriele Ferro. „Als Schauspielregisseur würde ich ganz andere Streichungen vornehmen“, sagt Vontobel. „Aber das ist ja das Faszinierende für mich, zu erleben, welche Rolle die Musik auch im dramaturgischen Gefüge spielt.“

Ein Schauspielregisseur in der Oper – da wittern Puristen gerne mal Dilettantismus. Nicht jeder Theatermann kann Noten lesen. Vontobel kann. Darauf komme es jedoch nicht an, sagt er: „Ich brauche nicht theoretisch zu erfassen, was harmonisch passiert, das höre ich auch so.“ Damit spricht er einen fundamentalen Unterschied zwischen beiden Sparten an. „Meine Herangehensweise ist nicht die, wissenschaftlich zu graben, sondern zuzusehen, was geschieht. Ich gebe den Zuschauern nichts vor. Es geht doch darum, was in ihren Köpfen entsteht.“

Und das kann ja dann nur ein sehr aktueller „Guillaume Tell“ des Jahres 2016 werden.

„Guillaume Tell“ So 6.3. 18.00 (Premiere), Staatsoper, Vorstellungen bis Sa 26.3. Karten: T. 35 68 68