Hamburg. Der Ex-„Stern“-Chefredakteur über den Wandel der Medienbranche, die Macht der Bilder und die Glaubwürdigkeit des Journalismus.
Es gibt Bilder, die jeder vor seinem inneren Auge hat. Schreckliche Bilder, berührende Bilder, ikonografische Bilder. In einer Ausstellung des Künstlers Michael Schirner, die vor einigen Jahren auch in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen war, konnte der Betrachter eine so subtile wie verblüffende Erfahrung zur Kraft der Bilder machen: eine leere Badewanne in einem Hotelbadezimmer. Das zentrale Bildmotiv, der tote Uwe Barschel in Genf, war herausretouchiert – und dadurch nur noch präsenter. Die Kunst entstand in ihrem Betrachter. Heutzutage gibt es eine wahre Bilderflut. Und die Redaktionen, ob Print oder Online, stehen täglich vor der Entscheidung: zeigen oder nicht? Die Leichen im Bataclan – drucken? Der Pilot des Germanwings-Fluges – veröffentlichen? Der tote Junge am Strand – ein Titelbild?
Aber wie war das früher? Der Hamburger Autor Michael Jürgs, 69, war Ende der 80er-Jahre Chefredakteur des „Stern“, als das Magazin den toten Uwe Barschel in der Badewanne auf dem Titel brachte. Am Mittwoch moderiert Jürgs im Literaturhaus die von ihm initiierte Podiumsdiskussion „Weh dem, der lügt?“, ein (bereits ausverkaufter) Abend über „die Glaubwürdigkeitskrise im Journalismus“. Mit dem Abendblatt sprach er zuvor über den Wandel der Branche, Mut zum Wahnsinn – und die richtige Reaktion auf den Vorwurf „Lügenpresse“.
Hamburger Abendblatt: Ist die Welt komplizierter geworden oder nur das Nachrichtengeschäft?
Michael Jürgs: Die Welt ist komplizierter. Und dadurch, dass alles, was passiert, innerhalb von Minuten oder Sekunden bekannt wird, ist auch das Nachrichtengeschäft komplizierter. Früher hatte man gewisse Geschichten für sich allein. Inzwischen haben alle alles im gleichen Moment. Es kommt darauf an, daraus was Eigenes zu machen. Fällt einem der eigene Zugang nicht ein, ist man am Ende.
Heute wird die Welt vor allem mit Bildern überschwemmt. Die meisten Fotos, die entstehen, werden höchstwahrscheinlich auch veröffentlicht. Mit oder ohne etablierte Medien.
Jürgs : Früher kam man an manches Material nur, wenn man Leute für viel Geld exklusiv irgendwohin geschickt hat. Das ist heute leichter. Führt aber auch dazu, dass viele Fotografen gar nicht mehr wissen, wovon sie leben sollen, weil im Netz alles schon verbreitet ist. Umso mehr braucht es die Kreativität derer, die eine Zeitung, ein Magazin machen. Sie müssen das richtige, das wahnsinnige, das eindrucksvollste Bild aus der Fülle auswählen und entsprechend präsentieren. Das ist eine hohe Kunst.
Eine, die Sie noch heute beobachten?
Jürgs : Bei vielen nicht mehr. Klingt erstmal wie der typische Spruch des Alten. Aber es hat eben auch etwas damit zu tun, dass man bereit ist, ein Risiko einzugehen. Der Mut hat nachgelassen, um den bequemeren Weg zu gehen. Aber jemand, der an das glaubt, was er macht, mit Leidenschaft, Haltung, Lust und Mut, der hat im Journalismus immer noch alle Chancen. Und der Beruf ist – neben dem des Papstes – immer noch der schönste der Welt.
Nicht jede „wahnsinnige“ Entscheidung ist ja automatisch die beste. Sie waren Chefredakteur des „Sterns“, als das Foto des toten Barschel auf dem Titel erschien. War das aus heutiger Sicht die richtige Entscheidung?
Jürgs : Es war eine unglaublich schwierige Entscheidung. Zumal das Bild ja nicht auf ganz legalem Weg entstanden ist. Natürlich kann man darüber streiten, ob es erlaubt ist, durch die offene Hotelzimmertür zu fotografieren. Und natürlich konnte man das Bild nicht wie heute, zack, an die Redaktion mailen, sondern es wurde verborgen in einem Schuhabsatz an der Polizei vorbei nach Hamburg geschmuggelt. Wo es dann erst entwickelt wurde. Für die Entscheidung, das zu drucken, kann man als Chefredakteur gestürzt werden, das ist der Job. Dafür wird man höher bezahlt als andere. Wir haben damals den Verleger eingebunden in die Entscheidung. Einerseits kühl kalkulierend: Die Auflage konnten wir uns vorstellen –, und sie lief auch entsprechend. Andererseits musste man damit rechnen, dass der „Stern“ fürchterlich gepeitscht werden würde dafür. Zumal die Hitler-Tagebücher damals erst vier Jahre zurücklagen. Und die Frage der Moral wurde unglaublich hart diskutiert.
Würden Sie es heute noch einmal so machen?
Jürgs : Ich bin ja älter geworden und habe viel, viel Grausameres gesehen, ob nun 9/11, ertrunkene Flüchtlinge, diese Schlächter vom IS ... Dagegen ist ein ertrunkener Barschel in der Badewanne ja ein geradezu ruhiges Foto, so zynisch das klingen mag. Und man darf die damalige Vorgeschichte auch nicht vergessen: das „Ehrenwort“, den durch Barschel lancierten Verdacht, dass Engholm Aids habe, das alles war ja der Hintergrund. Würde ich also noch einmal so entscheiden? Auf jeden Fall.
Was war anders bei Silke Bischoff, der einer der Gladbecker Geiselnehmer eine Pistole an den Hals hielt? Auch ein Foto, das ins kollektive Bilder-Gedächtnis der Bundesrepublik einging. Hier haben Sie als Chefredakteur dagegen entschieden.
Jürgs : Als es damals hätte gedruckt werden können, war sie schon tot. Mit dem Wissen wäre es obszön gewesen, das auf den Titel zu nehmen. Heute würde so ein Bild allerdings viel schneller in den Redaktionen auf den Tischen der Blattmacher liegen. Wahrscheinlich würde man es drucken – und anschließend gäbe es eine Sonderausgabe „Hart, aber fair“. Einer der Polizeireporter beim Gladbecker Geiseldrama war übrigens damals Frank Plasberg.
Ein aktuelles Beispiel: Der tote Junge am Strand. Hätten Sie es gezeigt?
Jürgs : Ja. Auf dem Titel. Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte. Mit der Überschrift „Europa am Ende“, dem Namen und dem Datum. Mehr nicht.
Wie ist Ihre Beobachtung: Gehen Journalisten heute transparent genug mit eigenen Entscheidungen um?
Jürgs : Durchaus. Und das ist richtig. Es gibt ja heute mehr Möglichkeiten, Fehler zu machen, wir sollten also dazu stehen. Und es ist entscheidend, nicht einfach irgendetwas in die Welt zu pusten – dafür sind wir Journalisten. Wir sollten, wie es der von mir bewunderte Kollege Hans Leyendecker predigt, immer erst einmal danach suchen, was an einer Geschichte möglicherweise nicht stimmt, und erst dann, wenn man nichts findet, beginnt die eigentliche Recherche.
Wie kann man dem Vorwurf der „Lügenpresse“ begegnen, der gern auch von jenen kommt, die Zeitungen gar nicht mehr lesen?
Jürgs : Gegen die Volksverdummer, die „Lügenpresse“ schreien, müssten sich die Medien gemeinsam wehren, mit der Kraft der Argumente – jenseits von eigenen politischen Unterschieden. Wir teilen schließlich bestimmte Prinzipien und eine moralische Verpflichtung. Also: Genau das schreiben, was ist. Manches nicht nennen? Nein, alles nennen, was passiert, gerade und erst recht jetzt, ohne Ansehen von Rasse und Nationalität. Aber man muss es belegen, schließlich können wir das, was so viele zufällige Schreiber vor allem im Netz nicht können, weil wir unseren Beruf erlernt haben. Journalismus ist zunächst einmal Handwerk. Und nach wie vor ein anständiger, ehrenwerter Beruf.