Hamburg. Ihre Bestseller wurden millionenfach gekauft. Mit “Neuland“ zeigt Ildikó von Kürthy, dass sie Hoden quetschen und Finger brechen kann.
Mit Quinoa kochen und das Ergebnis dann auch essen – es gibt Menschen, für die das Abenteuer genug ist. Schon, weil sie vorher bei Wikipedia nachschlagen müssen, ob Quinoa etwas mit püriertem Katzenhirn zu tun hat. (Hat es nicht. Meistens.)
Aber: Sich Botox in die Stirn jagen lassen und dann beim Sohn-Ausschimpfen nicht mehr angemessen runzeln können? Wissen, wie man Gluten ausspricht und trotzdem drauf verzichten? Laktose und Alkohol und Nikotin weglassen? Im Wald übernachten, frühmorgens meditieren („Zahnseide fürs Herz“), ins Holthusenbad einsteigen, sich Oberschenkelfett einfrieren und Blondhaar aus Brasilien einfliegen und es in stundenlanger, eher menschenunwürdiger Prozedur an die Frisur löten lassen, auf dass einen anschließend nicht mal Freundinnen grüßen, weil sie einen nämlich nicht erkannt haben?
Was, bitte schön, sind das nur für Leute, die so was tun?
Ildikó von Kürthy trägt einen schweinchenrosafarbenen Frotteebademantel. Sie lacht und winkt und steht auf einer kleinen Bühne im Kiez-Tanzclub La Yumba, auf einem der Tischchen davor stapeln sich Exemplare ihres neuen Buches: „Neuland“ heißt es (Wunderlich, 19,95 Euro). Und die Autorin, die das Werk an diesem Abend auf St. Pauli in einer szenischen Lesung vorstellt, sieht nicht so aus, als habe sie bleibende Schäden davongetragen.
Dabei hat Ildikó von Kürthy ein Jahr lang das getan, was andere spätestens zwei Tage nach Silvester wieder vergessen: Vorsätze umgesetzt. Mal gute, mal weniger gute, aber jeden Monat neue. Schwierigkeitsgrad schwankend. Hat den Schrank ausgemistet und ein Hospiz besucht, ist zur Food-Terroristin geworden und zur barbiehaften Blondine mutiert. Ein Langzeit-Experiment in eigener Sache, auf dem „Neuland“-Buchcover kann man den Vorher-nachher-Check machen.
Das große Dazwischen allerdings ist der eigentlich unterhaltsame Teil.
Ildikó von Kürthy erzählt von Männern, die beim Darm-Entgiften Fotos ihrer Angeber-Garage herumzeigen, und von Frauen, die ihrem Beckenboden einen Namen geben. Bodo.
Unter solchen Umständen auf den Alkohol zu verzichten – dafür gibt es die doppelte Punktzahl.
Das Schicksal habe sie mit schlichten Neigungen ausgestattet, gesteht von Kürthy freimütig und muss im La Yumba an dieser Stelle selbst glucksen. „Kuchenessen, Sonnenbaden, Serien gucken und Romane im Bett lesen mit dicken Kissen im Rücken. Zu allem anderen muss ich mich im Grunde überwinden.“ Eine typische Ildikó-von-Kürthy-Einsicht. Eine andere geht so: „Ich war ich, auch wenn ich mir mich anders vorgestellt hatte.“
Selbstironisch, ein bisschen kokett, die Pointe gern auf Kosten der eigenen Figur/Haare/Durchschnittlichkeit. Das ist gleichzeitig bodenständig und frech, ist vor allem grundsympathisch und fördert die Identifikationsmöglichkeit für die (in der Regel weibliche) Zielgruppe. Barbara Schöneberger macht das auch so. Und hat es damit immerhin zur eigenen Frauenzeitschrift gebracht.
Aber weil man – auch wenn man Bestsellerautorin, in 21 Sprachen übersetzt und ausreichend mit Mann und Kindern und Villa ausgestattet ist – wie jeder halbwegs normale Mensch vor allem eines möchte, nämlich: mehr!, hatte auch Ildikó von Kürthy, 48, neue Ziele im Blick. Und entschied sich, dabei bitte einmal so auszusehen „wie ein skandinavisches Au-pair-Mädchen“.
Man braucht dafür: Willenskraft, einen begabten Friseur und einen leidensfähigen Ehemann. Oder jedenfalls: einen schweigsamen (der Ehemann, nicht der Friseur). Dann wird am Ende aus einem bekloppten Experiment ein lustiger 400-Seiten-Wälzer. Das klingt schablonenhaft, ist aber deutlich mehr. Denn Ildikó von Kürthy schafft es, einen insgesamt pointenschwangeren Text, in dem eine beste Freundin Vera die Funktion des lakonischen Sidekicks übernimmt, immer wieder durch ernsthafte, sehr persönliche Geständnisse zu durchbrechen. Dass ihr Vater blind war und sie als Mädchen daher nie die Augenklimperblick-Option hatte, ist nur ein – allerdings besonders eindrückliches – Beispiel. „Ich wurde für meinen Vater durch Sprache lebendig“, schreibt von Kürthy. Worte seien zum „wichtigsten Schönheitsmerkmal“ geworden. Es ist vielleicht nicht die einzige, aber doch eine sehr einleuchtende Erklärung dafür, warum aus dem Mädchen eine Schriftstellerin wurde.
„Schweigen war für mich nie eine Option“, heißt es an einer Stelle – in dem Kapitel, in dem sie tapfer in ein Schweigekloster geht. Noch so eine Abzweigung auf der Fahrt „von der Komfortzone in die Problemzone“. Und übrigens, wie auch der Survival-Kursus in Wildeshausen, ein erhobenen Hauptes abgebrochenes Experiment. Wofür man als Leser dankbar sein sollte. Wie einschüchternd wäre es, wenn da eine Ironwoman-mäßig einen Vorsatz nach dem nächsten durchziehen würde?
Apropos einschüchternd. Frau von Kürthy kann nicht nur Satzbau und Botox, sie kann auch Hoden quetschen, Augäpfel entfernen und Finger brechen („Erst brechen, dann kurbeln“). Rein theoretisch, versteht sich, aber immerhin. Gelernt in Wildeshausen. Da behaupte noch einer, Schriftstellerin zu sein sei eine rein geistige Aufgabe.
Es ist das Meike-Winnemuth-Prinzip, mit dem sich von Kürthy in diesem Buch relativ unerschrocken auf die Suche nach sich selbst begibt. (Und dabei bisweilen jemandem begegnet, der nur so aussieht wie sie selbst. Beziehungsweise: manchmal nicht mal das.)
Gepflastert ist ihr Weg mit vermeintlich banalen Sinnsprüchen und Lebensweisheiten, die jedoch immer wieder auch zum Nachdenken anregen: „Wenn du so bleiben willst, wie du bist, dann tu was dafür“, sagt der Personal Trainer. „Pfeifen Sie auf das Glück. Glück ist Zufall“, sagt der Paartherapeut. „Wir nutzen nur ein Bruchteil unseres Persönlichkeits-Potenzials“, sagt der Veränderungs-Experte. „Es gibt kein Später, das uns erlauben wird, unser Leben zu korrigieren“, sagt die Schwester im Sterbehospiz.
„Im Kreis meiner Freundinnen befinden sich fünf Paar künstlicher Brüste, zwei Paar entschlupfter Lider und eine stetig wachsende Zahl lahmgelegter oder aufgefüllter Falten.“ Sagt Ildikó von Kürthy. Huch.
Am Ende dieser Versuchskaninchen-Tour-de-Force, einer „Mischung aus Großwildsafari und Bildungsurlaub“, war sie das Leben aus „Mäßigung und Pulskontrolle“ übrigens leid. Was erstens doch sehr für einen grundsätzlich gefestigten Charakter spricht und zweitens kein Wunder ist. Wer eine Dinkelstulle mit Käse schon für eine krasse Ernährungssünde hält (Gluten! Laktose! Alarm!), der mag im „Size-Zero-Getto Harvestehude“ ja eine Heldin der Vernunft sein. Aber dem kommt der Genuss und irgendwann auch der Sinn abhanden.
Im La Yumba läuft derweil laut 80er-Jahre-Musik, die Autorin wirkt gelöst, das brünette Kurzhaar ebenfalls, die Stirn darf eigenmächtig Wellen schlagen. Ildikó von Kürthy hat in ihrem Selbsterfahrungsjahr die Grundzüge von Emanzipation verstanden: „Selber denken. Und selber föhnen.“
Ildikó von Kürthy liest am 21. März, 19.30 Uhr, im Ernst Deutsch Theater und am 12. Juni, 19 Uhr, im Tivoli. Hubertus Meyer-Burckhardt moderiert