Hamburg. Die Autorin Verena Boos erhält morgen Abend im Literaturhaus für ihren Roman „Blutorangen“ den Mara-Cassens-Preis 2015.
Romane sind auch Geschichtsbücher. Meistens sind diese Romane dann gute Romane, wenn sie das Geschichtliche nicht allzu pädagogisch behandeln. Besser gesagt: wenn sie gar keinen pädagogischen Impulsen folgen, sondern die Historie in die Geschichte einbetten.
Verena Boos ist das in ihrem Roman „Blutorangen“ (Aufbau-Verlag) so gut gelungen, dass ihr morgen Abend im Literaturhaus der Mara-Cassens-Preis 2015 verliehen wird. 30 Jahre nach der ersten Kür ist Boos, Jahrgang 1977, die 31. Preisträgerin des mit 15.000 Euro dotierten Preises, der sich vorgenommen hat, das jeweils beste Debüt der Literatursaison auszuzeichnen. 68 Erstlingsromane wurden eingereicht und von der 15-köpfigen Leserjury gelesen und geprüft – dass sie keine fachidiotische Kommission ist, also nicht aus Kritikern, Lektoren, sonstigen Literaturbetrieblern besteht, ist eine Hamburger Besonderheit.
Der nach der im vergangenen Jahr gestorbenen und in der Hamburger Kulturszene schmerzlich vermissten Mäzenatin Mara Cassens benannte Preis war ein Anschub für manche literarische Karriere. Zu den bisherigen Preisträgern zählen Autoren wie Ralf Rothmann, Clemens Meyer, Thomas Lehr und Marlene Streeruwitz.
Und nun also auch Verena Boos, eine promovierte Historikerin aus Frankfurt am Main, die über die katalonische Identität forschte und folglich eine Spanien-Expertin ist. Das ist nicht unerheblich im Falle von „Blutorangen“, jenem eindringlich geschriebenen Roman, der eine spanisch-deutsche Parallelgeschichte erzählt. Beziehungsweise vom Einfall der Vergangenheit ins Gegenwärtige und den Traumata, die sich im Nacheinander der Generationen weiter vererben.
Das ist eine bedauerliche psychische Gesetzmäßigkeit, in „Blutorangen“ hängt an ihr die politische und die Mentalitätsgeschichte eines ganzen Landes. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Valencianerin Maite, die als Studentin nach München kommt – und dort bleibt. Des Hispano-Bajuwaren Carlos wegen, zu dessen Großvater Antonio, dem Obstverkäufer auf dem Münchner Großmarkt, Maite schnell Kontakt findet, der gemeinsamen spanischen Herkunft wegen. Hier kommt die große Geschichte, hier kommen die Verwerfungen eines blutigen Jahrhunderts ins Spiel: Der „rote“ Antonio verteidigte einst die Republik gegen den Faschismus und floh anschließend vor Franco erst nach Frankreich, dann ausgerechnet, eher unabsichtlich als gewollt, nach Deutschland.
Ein Land also, das damals „Deutsches Reich“ hieß und mit seiner Legion Condor an der Seite Francos im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte. Auf mehreren Zeitebenen – in den Jahren 1939, 1990, 2004 – nähert sich Boos nun dem Schicksal Antonios, das gleichzeitig auf nicht unmittelbare, aber dennoch dramatische Weise mit demjenigen Franciscos verwoben ist. Francisco ist der Vater Maites, und er ist als Mitglied der Guardia Civil , einer Spezialeinheit der spanischen Polizei, ein verknöcherter Sozialistenhasser geblieben. Vor allem aber ist er ein Mann, der, wie Maite herausfinden muss, im Zweiten Weltkrieg das Nazi-Abzeichen trug.
Das ist das auch in Spanien oft unbekannte Kapitel, in das sich die souverän zwischen den Zeiten und Schauplätzen bewegende Erzählerin Boos stürzt: Es gab eine Franco-Delegation, die an der Ostfront unterm Hakenkreuz und gegen die „bolschewistische Bedrohung“ operierte. Franco und Hitler, Faschisten unter sich. Man half einander gerne, und man etablierte synchron eine Ära der Gegen-Menschlichkeit: Man geht von 70.000 Franco-Gegnern aus, die in Spanien allein während des Kriegs exekutiert worden.
Der der schmerzlichen Entdeckung folgende Vater-Tochter-Konflikt wird in unerbittlichen Szenen geschildert und ist ebenso Bestandteil dieses Familienromans wie die Wiederannäherung Antonios an sein Heimatland. Die Erzählung ist geschickt konstruiert und legt die historischen Tiefenschichten frei.
Antonios über Jahrzehnte aufgeschobene Vergangenheitsbewältigung kulminiert im gemeinsamen Spanien-Besuch mit der Familie. In Spanien werden seit einigen Jahren die anonymen Gräber der Franco-Opfer geöffnet, es ist so, als würde das verdrängte Geschehen behutsam wieder ausgebuddelt. Traumata verjähren nicht.
In vielen Perspektivwechseln bleibt Boos nah bei ihren Figuren. Es gibt starke Teile, in denen sich die Autorin mit den Mitteln der literarischen Einfühlung ihren Helden nähert. Es sind fremdartige Erfahrungen einer ideologisch vergifteten Zeit, die uns Nachgeborenen seltsam erscheinen müssen. Es gibt das ehrenwerte Bemühen, eine geheime deutsch-spanische Beziehung ans Licht zu holen, gerade weil man dadurch mehr noch über Spanien als über Deutschland erfährt. Es gibt jedoch auch einige wenige sprachlich unterambitionierte Passagen – sie mindern den Gewinn keineswegs, der mit der Lektüre von „Blutorangen“ einhergeht. Verena Boos ist eine verdiente Mara-Cassens-Preisträgerin. Ihr erster Roman verrät eine gründliche Recherche – die Autorin nennt ihre Quellen im Nachwort, das ist redlich in einem dokumentarischen Buch wie diesem. Boos vertraut außerdem der emotionalen Wucht ihrer Geschichte, sie erzählt sie konventionell; das Fehlen formaler Spielereien stört allerdings nicht. Im Gegenteil.
Und dennoch hätte auch eine weniger linear erzählende Autorin wie beispielsweise die Berlinerin Kat Kaufmann („Superposition“) dem Mara-Cassens-Preis zur Abwechslung mal ganz gut zu Gesicht gestanden. Die Jury ist schon eher konservativ. Was als ästhetischer Standpunkt ja nicht immer verkehrt sein muss, andererseits – will man stets leicht ausrechenbar sein?
Der Mara-Cassens-Preis wird am 7.1. im Literaturhaus verliehen. Beginn 19.30 Uhr, die Veranstaltung ist ausverkauft.