Hamburg. Der Theaterabend „Schiff der Träume“ am Schauspielhaus zerfällt radikal in zwei Teile: Einer ist komödiantisch, der andere politisch.
Ist es eigentlich ein Zeichen der Dekadenz, ins Theater zu gehen und sich wie Bolle zu amüsieren? Es ist jedenfalls ein Zeichen von dramaturgischem Mut, ein ganzes Publikum fast zwei Stunden lang mit einer Inszenierung zu unterhalten, diese Inszenierung dann jedoch radikal, plötzlich und elementar zu brechen und in weiteren anderthalb Stunden einen komplett anderen Weg in einer gänzlich anderen Akzentuierung weiterzugehen. Es ist riskant – aber deutlich.
Die Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier hat sich in ihrer neuen Inszenierung „Schiff der Träume“ nach dem Film des italienischen Regisseurs Federico Fellini dazu entschieden, mindestens zwei Inszenierungen an einem Abend zu zeigen und mit dem bewussten Bruch der Tonalität auch ihr eigenes Werk – jedenfalls den ersten Teil davon – zur Disposition zu stellen. Sie führt das Publikum über eine lange Strecke gewissermaßen an der Nase herum, um anschließend mit besonderem Nachdruck Fragen zu stellen: Ist das überhaupt relevant, was wir hier so verhandelt haben? Ist die Unbekümmertheit nicht geradezu absurd, mit der wir in der eigenen Suppe rühren und dabei über immer neue Kalauer lachen? Warum beschäftigen wir uns nicht mit den entscheidenden Dingen der Gegenwart? Und wenn doch, warum so unendlich naiv?
Fellinis Film von 1983 ist für Beier, die eine neue Fassung mit den Dramaturgen Stefanie Carp und Christian Tschirner erarbeitete, nur eine Art Folie: ein Kreuzfahrtschiff, auf dem sich eine illustre Gesellschaft zur Seebestattung einfindet. Bei Fellini ist es eine – herrlich überzeichnete, egozentrische, schwelgerisch ausgestattete – Kultursippe, die eine tote Operndiva auf der letzten Reise begleitet. Bei Beier ist es ein zerstrittenes Orchester, das dem despotischen Dirigenten in der Urne diese letzte Ehre erweist. Man will eine umstrittene Komposition des Verstorbenen aufführen: „Human Rights 4“, ein kompromisslos modernes Musikstück der eher erbarmungslosen Art.
Misstöne jeglicher Art prägen auch abseits der musikalischen Arbeit das Miteinander des Orchesters. Dazu gesellen sich ein offensichtlich animationsgestählter Kreuzfahrtdirektor („Ich beherrsche alle Varianten des amerikanischen Service-Lächelns“) und eine hingebungsvoll überforderte Hostess namens Astrid, deren Vorname jedoch dummerweise wie „Arschtritt“ ausgesprochen wird. Karin Beier gibt dem Ensemble – allen voran der erneut bravourösen Lina Beckmann als Servicekraft Astrid, Charly Hübner als bezopftem, triangelbewaffneten Dirigentendarsteller und Michael Wittenborn als dem Alkohol zugetanen Klarinettisten – ausgiebig Raum zur Groteske. Da darf ein wenig philosophiert, vor allem aber ausgelassen geslapstickt und gekalauert werden, bis dem Publikum die Lachtränen in die Augen steigen und sich Charly Hübner über und über mit der Asche des Toten besudelt hat. Man reißt Veganerwitze („Ich habe mich nicht an die Spitze der Nahrungskette gekämpft, um als Veganer zu enden“) und blödelt über Kant, die „kategorisch beleidigte Leberwurst“. Josef Ostendorf schlagwerkert mit Taucherflossen und singt im roten Vom-Winde-verweht-Kleid Christina Aguileras „Beautiful“. Der scheinbare Kurs dieses Unterhaltungsdampfers: gehobene Albernheit, Boulevard mit Anspruch und durchaus mit partiellem Tiefgang.
Aber dann.
Kurz vor der Pause entert eine Gruppe aus Afrika stammender Darsteller die Bühne. Fellinis Film spielt kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Dampfergesellschaft nimmt darin serbische Bootsflüchtlinge auf und debattiert über deren potenzielle Gefährlichkeit – ein hochaktueller Stoff. Beier macht daraus auch einen ästhetischen „clash of cultures“.
Ihre fünf Flüchtlingsdarsteller – starke, performanceerprobte Bühnenpersönlichkeiten – gehen in die direkte Interaktion mit dem Publikum. Das Saallicht geht an, die Grenzen sind aufgehoben, ein gemütliches Verstecken im Parkett ist fortan unmöglich. „Wir wollten eigentlich unter uns bleiben, wir haben auch alles bezahlt ...“, versucht es Wittenborn – ein Kommentar, der auch aus dem bildungsbürgerlichen Parkett hätte kommen können. Von dort aber wird nun Haltung verlangt.
Gelacht wird noch immer, allerdings deutlich unsicherer. Stattdessen wird der Abend nun laut, unverblümt, ironisch, körperlicher, offen provozierend. Manch einer hätte „so etwas“ vielleicht auf Kampnagel erwartet, aber nicht im Schauspielhaus, nach der Pause lichten sich die Reihen vereinzelt. Aber, wie Julia Wieninger mit schön arrogantem Wiener Schmäh erkannt hat: „Es gibt auch ein Recht auf Überforderung.“ Dieses Recht nimmt sich Karin Beier kess heraus.
Das ist natürlich dreist und schon darum nicht ohne Wirkung. „Veränderung schafft Vitalität!“ heißt es an einer Stelle. Mehr als ein legitimer Versuch ist dieser ungewöhnliche Abend allemal. Nur leider viel zu lang und bisweilen dann doch ärgerlich didaktisch.
Nächste Vorstellungen: 12.12., 22.12., jew. 20.00, weitere Termine im Januar. Deutsches Schauspielhaus (Hauptbahnhof), Kirchenallee, Kartentelefon 24 87 13