Hamburg. Früher war Sarah Moon vor der Kamera gefragt. Seit 1968 fotografiert sie selbst – und stellt jetzt in den Deichtorhallen aus.

Es waren diese Kindfrauen, blutjung wie Sarah Moon selbst, die sie schon in ihren ersten Fotografien durch Grobkörnigkeit, Bewegungsunschärfen und Anschnitte mit einem Geheimnis umhüllte. Von Anfang an folgte die Frau, die in den 1960er-Jahren als gefragtes Model arbeitete, aber bald auf Fotografie umsattelte, ihrem Weg in die eigene innere Bilderwelt.

Nie sind die Fotografien von Sarah Moon glatt, poppig oder zeitgeistig. Selbst ihre Modefotos öffnen weitere Türen, einen Pfad ins Vergangene, Ungewisse, sie zeigen eine Frau, die unter Bäumen fortgeht, den Saal verlässt, den Blick unter Tüll verbirgt ...

Es ist deshalb nur folgerichtig, dass im Haus der Photographie in den Deichtorhallen jetzt, mit ähnlichem Pioniergeist wie schon bei Saul Leiter, Lillian Bassman und Paul Himmel, die Ausstellung so arrangiert wurde, dass Sarah Moons Filme stets mit den Bildern korrespondieren. Sie gehören ja auch inhaltlich oft zusammen. 350 Fotos und fünf Filme – welch Erlebnis!

Stil des Verschleierns und Patinierens

Filme habe sie lange vor den Fotografien entdeckt, „was mich interessierte, war das Bild, das eine Geschichte in sich trägt, anders ausgedrückt: das Bild als Sprache ...“, sagt die Fotografin im Gespräch mit dem Regisseur José Chidlovsky. Die in Kino-Nischen aufgeteilte Raummitte mit den fünf teils kurzen Filmen wurde von Brigitte Woischnik und Ingo Taubhorn kuratiert, alle Kabinette drum herum hat die Fotografin selbst gestaltet.

So fotografierte Sarah Moon 1996 ein Kleid von Yohji Yamamoto
So fotografierte Sarah Moon 1996 ein Kleid von Yohji Yamamoto © HA | Sarah Moon

Sarah Moon fotografierte große Kampagnen für Cacharel, Dior, Chanel oder Issey Miyake, und schon dort war immer eine gewisse Offenheit sichtbar. Keine abgeschlossene Inszenierung des Weiblichen, stattdessen Fragmente, angeschnittene Köpfe und der typische, durch Doppelbelichtung entstandene Eindruck eines verwackelten Polaroids. Darüber hinaus lernt man hier ihr gesamtes freies Werk kennen: auratische Fotos von Flechten, Farnen, Ranken, Blumen, Wasservögeln, Landschaften, Ballsälen, zerfallenen Industriehallen, Wiesen oder menschenleeren Landschaften, einmal sogar wie gezeichnet und getuscht als Platinum-Prints auf japanischem Reispapier.

Ihre Modefotos hat die Fotografin zwischen die atmosphärischen Aufnahmen gehängt. Wenn sie Kleider farbig fotografierte, wurde Moon ungewohnt minimalistisch, strukturierte die Fotos wie ein expressionistisches Porträt. Und dann sind da noch ihre Pflanzenbilder in edelmatten Farben. Auch die hat sie in Klein und über den Umweg eines alten Spiegels fotografiert, um sie dann groß zu ziehen wie ein stattliches Gemälde.

Die Fotografin Sarah Moon war in den 1960er Jahren ein gefragtes Model
Die Fotografin Sarah Moon war in den 1960er Jahren ein gefragtes Model © HA | Ilona Suschitzky

Zwar betonte Deichtorhallen-Direktor Dirk Luckow, dass Sarah Moon „nicht nostalgisch“, sondern eigentlich sehr modern sei, weil sie sich von der digitalen Technik mit ihren glatten Oberflächen nicht abschrecken lässt. Trotzdem behält sie ihren Stil des Verschleierns und Patinierens bei, etwa mithilfe eines alten, fleckigen Spiegels und das Abfotografieren von am Rand ausgelaufenen Polaroids. Dennoch ziehen ihre Filme wie von Zauberhand in eine andere Zeit hinein; eine trügerische Einladung, in die ungemütlichen Abgründe der eigenen Träume und Erinnerungen hinabzusteigen, ein giftiger Apfel.

„Kreatives Schaffen ist ein Exorzismus“

Sarah Moon verführt in ihren Filmen mit schönen, traurigen Bildern. In die morbide Ästhetik jener Orte, die sie aufsucht, webt sie Geschichten und blendet stets einzelne Fotografien ein. Vielleicht, um den Bilderfluss zu verlangsamen. Vielleicht auch, um ihn kurz aufzubrechen und anders fortzufahren. Erzählt wird die Geschichte vom wackeren Rotkäppchen, vom Blaubart oder der kleinen Meerjungfrau.

Den womöglich schönsten Film kann man sich gleich als Erstes ansehen: „Circus“ entstand 2003 und ist eine sehr freie Interpretation des Andersen-Märchens vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern. Schwarz-weiß flackernd erscheint eine Elefantendame, es folgen ein verschwommener Giraffenkopf, ein Lichterbogen, und dann Nastassia, die stämmige Akrobatin. Draußen vor dem Zirkuszelt wartet die ganze Nacht lang der verzweifelt liebende Clown Alfred. Im Schnee über jener untergehenden Zirkuswelt, aus der nach und nach alle fliehen, lässt Sarah Moon fünf Störche aufrecht erstarrt sterben. Das Mädchen mit den Schwefelhölzern singt mit dünner Kinderstimme und rennt ganz allein davon, irgendwann scheppert in seinem letzten, eisigen Traum eine schiefe Drehorgel vor sich hin.

Es ist nicht wirklich Andersens tiefenpsychologisch aufgeladene Märchenwelt, die Sarah Moon hier bebildert, es ist ihre eigene. Sie öffnet einen fantastischen Bilderkosmos, fragil und voller Falltüren. „Kreatives Schaffen ist ein Exorzismus, es hilft, und im besten Fall erlangst du die Freiheit“, sagt sie. Als die Ballerina, die ihren geliebten Zinnsoldaten sucht, aus dem Rahmen steigt, tut sie etwas, was auch diese ihr Leben lang tagträumende Fotografin ständig tut: Sie steigt aus und entschwindet.

Sarah Moon, „Now and Then“, 27.11.–21.2.2016, Deichtorhallen/Haus der Photographie, Deichtorplatz
Di–So 11.00–18.00, Do 11.00–21.00. Eintritt: 10,-/ erm. 6 Euro; www.deichtorhallen.de