Hamburg . Rüdiger Pape bringt Michael Endes Erfolgsroman „Die unendliche Geschichte“ mit überraschenden Effekten ins Thalia Theater.
Wohl dem, der die richtigen Freunde hat im Leben. Bastian Balthasar Bux hat die falschen. „Looser“, „Lutscher“, ,„Lauch“ rufen sie ihm schallend hinterher. Bastian ist eben nicht cool. Rundlich, unmodisch, hornbebrillt. Dazu ist er auch noch ein Angsthase und Schwächling. Die Mutter tot, der Vater verstummt, keine guten Startvoraussetzungen für dieses komplizierte Leben. Wie gut, dass es Bücher gibt, fremde, verlockende Welten, wenn die Realität einem so schnöde mitspielt.
Vom großen Trost der Gedankenfliegerei in das Land Phantásien erzählt Michael Ende in seinem Welterfolg „Die unendliche Geschichte“. Nur scheinbar ein Stück Jugendunterhaltung ist er Bildungsroman, moralisches Märchen und Heldenreise zugleich. Regisseur Rüdiger Pape hat dieses durchaus komplexe Werk nun in einer schlanken Bearbeitung mit Natalie Lazar als Familienstück am Thalia Theater herausgebracht. Dem geneigten, schon nicht mehr ganz so kindlichen Besucher ab 10 Jahren eröffnen sich hier fulminante fantastische Welten und Abenteuer – und auch manch philosophischer Gedanke.
Seine rettende Begegnung erlebt Bastian Balthasar Bux, dem Steffen Siegmund ein herrlich nerdiges Aussehen verleiht, im Antiquariat des kauzigen Karl Konrad Koreander (Marina Wandruszka). Der sitzt mit umgedrehtem Buch auf dem Kopf auf einem Bücherstapel, von dem es Bastian eines besonders angetan hat. „Die unendliche Geschichte“. Und schon öffnet sich eine zweite Oberbühne. Seltsame, von Kostümbildner Andy Besuch toll aufgemachte Wesen hausen hier im Haulewald, ein Nachtalb, genannt Wuschwusul, ein Winzling mit Namen Ückück.
In zauberhaft gezeichneten Videoprojektionen fallen Blätter von den Bäumen. Die Herrscherin dieses Reiches, genannt Phantásien, die Kindliche Kaiserin, ist krank, so erzählt Marie Jung als schillerndes Irrlicht Blubb. Das „Nichts“, vertreten durch seinen Helfer, den fiesen, verkniffenen Werwolf Gmork (Paul Schröder), droht ihre Welt zu verschlingen. Nur einer kann sie retten, Atréju, hinreißend als Langhaarhippie gespielt von Pascal Houdus, ein Waisenjunge mit olivfarbenem Teint. Mit seinem Pferdegehilfen Artax (Paul Grote) und geschützt vom königlichen Medaillon Auryn macht er sich auf den Weg, einen ominösen Retter in Menschengestalt zu suchen.
Der im Vordergrund weiter lesende Bastian ist da längst hineingesogen in die Geschichte, genauso wie die in Spannung erstarrten Zuschauer im Saal. Und was bekommen sie nicht alles Tolles zu sehen? Sie waten mit Atréju durch Sümpfe der Traurigkeit, treffen die grantige uralte Schildkröte Morla, von Christina Geiße großartig als übergewichtige Proll-Oma mit pinkem Slip, Blondperücke und Rollator gegeben. Eine Nihilistin, die davon faselt, dass „alles gleich“ sei und sowieso sinnlos.
Den jungen Helden schickt sie zu Uyulála ins Südliche Orakel. Weiter geht es durch die Toten Berge und den Großen Abgrund zu den herrlich spleenigen, geflügelten Zweisiedlern und schließlich zu dem flauschigsten aller Glücksdrachen mit den freundlichsten Augen des Universums. In einem gigantischen Glücksrad mit stachligen Helfersoldaten schwebend, ruft Fuchur zu Recht Szenenapplaus hervor.
Die Inszenierung will sichtlich mit neuen Medienwelten konkurrieren und greift gekonnt aber wohl platziert in die große Bühnentrickkiste. Uyulála etwa wird da zur Stimme einer Lichtprojektion. Davon abgesehen konzentriert sie sich aber ganz auf den Kern der Erzählung, die die Darsteller aus dem Text und dem eigenen Körper heraus entwickeln. Sie gönnt sich auch Pausen, Stille, Leere, Verzauberung, Dunkelheit und verzichtet wohltuend auf permanenten Gesang. Nur die alte Morla darf hier ein paar Takte grölen. Die unheimlichen Begebenheiten illustriert Sebastian Herzfelds wohldosierte, elektronische Tonspur. Einige Nebenfiguren und -handlungen sind ausgespart, darunter die Zauberin Xayide. Bastian wird erst Teil der Geschichte, dann zum Retter, der der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen geben und in ihrem Auftrag die Welt Phantásien neu erschaffen wird.
Jeder kann ein Held werden. Sogar jeder Außenseiternerd. Der Dualismus von Menschenwelt und Fantasie löst sich auf, und im besten Falle trägt diese zauberhafte Märchenfantasie bei ihren jungen und durchaus auch jung gebliebenen Zuschauern dazu bei, etwas ganz Unerhörtes zu entdecken: Die Magie der Bücher.
„Die unendliche Geschichte“ Vorstellungen bis 10.1., Thalia Theater, Alstertor, Karten zu 6,50 bis 29 Euro unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de