Hamburg. Bei seinem Laeiszhallen-Gastspiel mit dem Lucerne Festival Orchestra dirigierte Andris Nelsons Werke von Mahler und Bethoven.
Das sinnfälligste Bild, um seinen Dirigierstil zu charakterisieren, lieferte Andris Nelsons bei seinem Gastspiel mit dem Lucerne Festival Orchestra am Sonnabend im Großen Saal der Laeiszhalle gleich selbst. Vor lauter Überschwang nämlich entglitt dem Ekstatiker sein Taktstock, der schoss raketengleich in die Höhe, beschrieb im Zenit seiner Flugbahn einen mustergültigen Parabelbogen und schlug dann irgendwo in den hinteren Reihen der Violinen ein. Zum Glück für die Musiker blieb das Geschoss wirkungslos.
Nelsons beim Dirigieren von Mahlers Fünfter nur zuzuschauen, brachte einen schon außer Atem. Der Lette choreografierte den Klang, tanzte ihn vor mit Gesten, die bisweilen so skurril wirkten, als habe er sein Bewegungsrepertoire bei Jonny Depps Darstellung von Jack Sparrow abgeschaut. Schloss man die Augen, so hörte man vor allem ein sehr gutes Orchester. Mahlers Fünfte ist unfassbar dicht, hier aber wurden alle ihre Schichten transparent. So als wären sie räumlich gestaffelt, taten sich hinter der Hauptstimme die Gegenstimme, hinter der Gegenstimme das Mosaik der Begleitfiguren und hinter allem die kräftige Kontur einer markanten Bassstimme auf. In Sachen Orchesterklang war der Abend ein Fest.
Allerdings hat man sich inzwischen daran gewöhnt, bei Mahler vor allem die Abgründe zu hören, das Doppelbödige, Zerrissene, Groteske, die gequälte Seele. Öffnete man die Augen wieder, suchte man das existenzielle Drama, das Nelsons vortanzte, allerdings vergebens. Den Letten scheint an Mahler vor allem der geniale Orchestervirtuose zu interessieren, von allen Facetten dieser überreichen Musik hinterließ an diesem Abend ihr Triumphalismus den stärksten Eindruck. Nach dem fulminanten Finale sah man selbst gestandene Konzertmeister tief durchatmen.
Begonnen hatte der Abend mit dem entgegengesetzten Extrem. Die ersten Takte von Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 ging Nelsons nämlich noch so verhalten an, dass sie fast in Stille zurücksanken. Das Auftrumpfen verschob er klug disponierend – und wohl schon mit Blick auf den Mahler im zweiten Teil – vor allem auf die Orchesternachspiele. So war der erste Teil vor allem ein Fest für alle Beethoven- und Buchbinder-Fans.
Rudolf Buchbinder hat im Umgang mit Beethoven die souveräne Gelassenheit eines Interpreten, der sich und anderen nichts mehr beweisen muss. Fast könnte man sagen, Beethoven und er sind alte Kumpels. Buchbinders Anschlag ist kräftig und markant, klänge das Wort nicht so nach Grobheit, könnte man sein Spiel robust nennen.
Wo immer Buchbinder fein, sensibel, delikat wird, hat man das Gefühl, es ginge sicher noch ein wenig feiner, sensibler und delikater – doch genau dann würde die Musik süßlich und sentimental. Kurz, Buchbinders Beethoven ist auch dort, wo er in tiefem Gefühl schwelgt, immer noch ein richtiger Kerl.
Und der dirigiererfahrene Pianist Buchbinder kennt offenkundig auch die Orchesterstimmen von Beethovens Klavierkonzerten in- und auswendig. So hielt er Blickkontakt mit den Kollegen, ließ sie durch, wo ihre Stimmen die Führung hatten, und wurde dafür seinerseits vor allem im zweiten Satz von einem fein agierenden Orchester klanglich auf Samt gebettet.