Hamburg. Das Ensemble von Sir Andrew Lloyd Webbers „Phantom II – die Liebe stirbt nie“ singt dem Publikum ein Glitzern in die Augen.

Mit Fortsetzungen von erfolgreichen Geschichten ist es immer so eine Sache. Fortsetzungen werden ja immer am Ausgangsstoff gemessen, sogar, vielleicht vor allem dann, wenn es sich um eine Geschichte handelt, die noch nicht ganz auserzählt worden ist. Die Geschichte des „Phantoms der Oper“ zum Beispiel, einem der erfolgreichsten Musicals aller Zeiten, das von der unglücklichen Liaison eines unheimlichen, leicht soziopathischen Maskenmannes namens Erik mit einer wunderschönen, leicht naiven Sängerin namens Christine handelt. Doch nach dem dramatischen Showdown in den feuchten Katakomben tief unterm Pariser Opernhaus sagt die erhitzte und derangierte Christine bloß: „Es gibt kein Phantom mehr!“

Die eine Frage war: Wo ist es denn hin? Die zweite Frage lautete: Was hat es hinterlassen?

Sir Andrew Lloyd Webber, den genialischen musikalischen Schöpfer des „Phantoms“ (das auf der Romanvorlage von Gaston Leroux aus dem Jahre 1939 basiert) haben diese beiden Fragen offenbar nicht losgelassen. Er bat daher seinen Freund, den englischen Schriftsteller Frederick Forsyth („Der Schakal“), sich Gedanken über eine Fortsetzung des Dramas zu machen. Der dachte sich daraufhin den Roman „Das Phantom von Manhattan“ aus. Zum Drehbuch (Andrew Lloyd-Webber, Glenn Slater, Ben Elton) war es jetzt nur noch ein kleiner Schritt. Und so wird seit Donnerstag nach London, Melbourne, Kopenhagen und Wien nun auch in Hamburg die „größte Liebesgeschichte aller Zeiten“ fortgesponnen – auf der Bühne des Stage Operettenhauses am Spielbudenplatz.

Roter Teppich bei Musical-Premiere in Hamburg

Die Schauspielerin Mariella Ahrens und Sebastian Esser kommen am im Stage Operettenhaus auf der Reeperbahn in Hamburg zur Premiere des Musicals
Die Schauspielerin Mariella Ahrens und Sebastian Esser kommen am im Stage Operettenhaus auf der Reeperbahn in Hamburg zur Premiere des Musicals "Liebe stirbt nie - Phantom II" von Andrew Lloyd Webber. Die Fortsetzung des Musicals "Phantom der Oper" feierte am Donnerstag seine Deutschlandpremiere © dpa | Christian Charisius
Weitere Gäste: Die Moderatorin Sonya Kraus
Weitere Gäste: Die Moderatorin Sonya Kraus © dpa | Christian Charisius
Die Schauspielerin Tanja Schumann
Die Schauspielerin Tanja Schumann © dpa | Christian Charisius
Die Schauspielerin Sila Sahin
Die Schauspielerin Sila Sahin © dpa | Christian Charisius
Die italienische Schauspielerin Ornella Muti
Die italienische Schauspielerin Ornella Muti © dpa | Christian Charisius
Der Komponist Andrew Lloyd Webber
Der Komponist Andrew Lloyd Webber © dpa | Christian Charisius
Darsteller spielen eine Szene aus dem Musical „Liebe stirbt nie - Phantom II“
Darsteller spielen eine Szene aus dem Musical „Liebe stirbt nie - Phantom II“ © dpa | Morris Mac Matzen
Der isländische Tenor Gardar Thor Cortes spielt das „Phantom“. Seine große Liebe Christine spielt die gebürtige Amerikanerin Rachel Anne Moore
Der isländische Tenor Gardar Thor Cortes spielt das „Phantom“. Seine große Liebe Christine spielt die gebürtige Amerikanerin Rachel Anne Moore © dpa | Brinkhoff/Moegenburg
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Genau dort gehört „Liebe stirbt nie“ auch hin. Schließlich erleben wir hierzulande gerade die Renaissance der Operette, und dieses jüngste Andrew-Lloyd-Webber-Musical (Liedtexte: Glenn Slater und Charles Hart) kratzt – nicht nur wegen des häufigen Sprechgesangs – bisweilen sogar am Fach der Oper.

Um es vorwegzunehmen: Ja, „Liebe stirbt nie“ geht durchaus als eigenständiges Stück über die Bühne. Man muss sich nicht ans Pariser „Phantom“ erinnern, um die Fortsetzung inhaltlich zu kapieren, die – um es vorweg zu nehmen – ein wenig dünn angerührt ist.

Jedenfalls hat sich das „Phantom“ nach New York auf die rummelige Vergnügungshalbinsel Coney Island abgesetzt, wo es mit einer bunten Schar von Artisten, Freaks und sparsam bekleideten Hupfdohlen seinen „Phantasma“-Zirkus betreibt. Aber da die Zeit nicht alle Wunden heilen kann (und das gebrochene Herz eines Soziopathen schon gar nicht) lockt Erik die mittlerweile weltbekannte Sopranistin Christine Daaé mit einer astronomisch hohen Gage in die Neue Welt. Da sie ihren beinahe mittellosen Ehemann Raoul und ihren zehnjährigen Sohn Gustave mitbringt, entwickelt sich nun rasch eine klassische Dreiecks­geschichte, garniert mit reichlich Eifersucht und einer offensichtlich ungeklärten Vaterschaft.

Ausgerechnet Lloyd Webber selbst aber traut der Eigenständigkeit seiner Fortsetzung nicht: Anders ist es nicht zu erklären, dass „Liebe stirbt nie“ nach einem fulminanten, spektakulären Auftakt zum Ende des ersten Aktes hin in eine mehr oder weniger gesungene, auf jeden Fall aber zu lang geratene Paartherapie abgleitet, in der Christine und Erik ihre einzige, gemeinsam verbrachte, wenn auch „rabenschwarze Nacht“, nach allen Regeln der Gesangskunst aufarbeiten. Welch eine Verwandlung! Plötzlich erscheint das Phantom im Lichte eines patenten Liebhabers, der sich nur aus Angst, Christine könnte sein Gesicht sehen, im Morgengrauen auf und davon gemacht hatte. Dafür küssen sie sich jetzt am helllichten Tag, während Ehemann Raoul, ein rechter Loser, versucht, Geld aufzutreiben. Zum Glück haut Andrew Lloyd Webber dann kurz vor der Pause zum ersten Mal die E-Gitarrren raus: Das Stück „The Beauty Underneath“ verhindert so ziemlich im letzten Augenblick, dass die nie sterbende Liebe zwischen Christine und Erik in bleierner Zeit zu versinken droht.

Es ist immer wieder die Musik Lloyd Webbers, die diese neue Stage-Produktion letztlich zu einem Erlebnis macht. Denn ihm sind vermutlich die besten Melodien und Harmonien seit Jahrzehnten gelungen. Das Motiv von „Love Never Dies“ hat unzweifelhaft Ohrwurmpotenzial, und spätestens an dieser Stelle wird klar, dass die Stimmen der Hamburger Darsteller weitaus wichtiger sind als ihr Akzent um des Verstehens willen. Ob nun Gardar Thor Cortes (Phantom), Rachel Anne Moore (Christine), Yngve Dasoy-Romdal (Raoul), Masha Karrell (Madame Giry), Ina Trabesinger (Meg Giry) und natürlich Kim Benedikt, Solist des Knabenchors der Chorakademie Dortmund, der dem kleinen Gustave seine Stimme leiht: Den Hauptdarstellern gelingt es – wie dem gesamten Ensemble – dem Publikum das von den Machern gewünschte Glitzern in die Augen zu singen; hervorragend und immer auf den Punkt auch das Orchester, das von Bernhard Volk souverän geleitet wird.

Und es ist die unfassbar opulente, farbenprächtige Ausstattung – von den Kostümen bis hin zum Bühnenbild in Kombination mit ausgefeilter Technik, die dabei hilft, über die teilweise Handlungsschwäche mühelos hinwegzusehen. Das Hamburger Publikum kommt ja auch in den Genuss der australischen Inszenierung unter der Regie von Simon Phillips mit der Ausstattung von Gabriela Tylesova, über die Lloyd Webber, zu Tränen gerührt, sagte: „Das ist wirklich eine der besten Produktionen, die ich je von einem meiner Werke gesehen habe.“

Man ist geneigt, ihm zuzurufen: „O yes, Sir!“

„Phantom II – Liebe stirbt nie“ im Operettenhaus, Spielbudenplatz 1 (U St. Pauli), Karten zu 58,64 Euro bis 113,84 Euro an allen Vorverkaufsstellen