Hamburg. Halb Film, halb Bühnenkunst: Herta Müllers „Reisende auf einem Bein“ begeistert am Schauspielhaus trotz offener Fragen.

„Haben keinen anderen Grund, außer, dass sie leben wollen.“ Als dieser Satz fällt, es ist einer der ersten in Katie Mitchells Inszenierung „Reisende auf einem Bein“ am Deutschen Schauspielhaus, ist man in Gedanken noch am eben durchschrittenen Hamburger Hauptbahnhof. Da sitzen sie oder stehen in Kleingrüppchen, jene, die keinen Grund haben, außer dem, dass sie leben wollen. Viele mit Kleinkindern, manche mit Tüten, manche ohne Taschen, fast alle still, ­erschöpft. Die Helfer tragen leuchtend gelbe Warnwesten, auch sie sehen ­müde aus. Auf einer Bank vor den Zelten am Hachmannplatz, direkt gegenüber vom Theater, hocken Kinder und malen mit bunten Stiften auf mitgebrachte Papierblätter. Wer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schauspielhaus-Saisoneröffnung kommt, muss unweigerlich an den ­Gestrandeten vorbei und es fällt nicht leicht, die Bilder loszulassen, bevor das Stück beginnt.

Und vielleicht ist es auch gar nicht nötig. Denn auch „Reisende auf einem Bein“, nach dem Roman der Nobelpreisträgerin Herta Müller und erweitert um Motive ihres Romans „Herztier“, hat Flucht, Fremdheit, Heimatlosigkeit zum Thema. Aber es erzählt dann doch eine ganz andere Geschichte. Und lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters ohnehin zunächst weniger auf die Handlung (eine Fassung von Katie Mitchell und Dramaturgin Rita Thiele), als auf ihre Umsetzung.

Katie Mitchell hat ein Filmset auf die große Schauspielhaus-Bühne gebaut, realitätsnahe Requisiten und Kulissen, die sich verschieben und bespielen lassen und zwischen denen nicht nur die Schauspieler agieren, sondern vor allem auch rund zwei Dutzend Kameraleute, Ton- und Kabelträger, die alles, was sich tut, in einer logistischen Meisterleistung zu einer Art Live-Kino zusammenbringen, das wiederum auf großer Leinwand präsentiert wird. Der Zuschauer hat also beides: den Film in wunderbarem Schwarz-Weiß-Realismus und der detailverliebten Ausstattung von Alex Eales, die in Ästhetiken vergangener Jahrzehnte schwelgen darf (Blümchentapete! Gelbe Telefonzelle! Telefon mit Wählscheibe und mit Tasten!) – und das unmittelbare und transparente Entstehen der Kunst.

Die Flüchtende im Schauspielhaus ist Irene, eine deutschsprachige Rumänin, der nach perfider Drangsalierung im Ceaușescu-Regime endlich die Ausreise nach West-Berlin erlaubt wird. Sie wird von der Securitate erniedrigt (ekelhaft schreibtischböse: Michael Prelle) und ist stundenlangen Verhören ausgesetzt, bevor ihr Ausreiseantrag – nicht ohne Drohungen als Dreingabe – bewilligt wird. Ein tiefgreifendes Misstrauen nistet sich in ihr ein, das auch im vermeintlich freien Westen nicht verschwindet. Auch hier haben die Behörden Fragen, diesmal ist es der BND in Gestalt von Paul Herwig, bevor die Einbürgerungsurkunde ausgestellt werden kann. Auch hier „rollt das Land über die Person hinweg“, auch hier ordnet sich Irenes Leben dem diabolischen Drehbuch der Überwachung unter, ist Paranoia ein ewiger Begleiter.

Die schwankende Haltlosigkeit, die das zur Folge hat, sieht man in Großaufnahme: Julia Wieninger spielt Irene auf berückend schöne Weise (wäre „schön“ in diesem Zusammenhang nicht ein geradezu zynischer Begriff). Überhaupt überzeugen die Schauspieler auch in der Nahaufnahme absolut, unbedingt erwähnenswert sind Ruth-Marie Kröger als rumänische Freundin, am Ende ebenfalls nur ein Spitzel der Securitate, Achim Buch als Sachbearbeiter, Philipp Hauß als Irenes westdeutscher Liebhaber. Sie alle können nicht nur Bühne, sie können auch Kino.

Die Kameras sind unerbittlich, und natürlich erschließt sich die Big-Brother-Situation sofort, dissoziative Identitätsstörung, Überwachungsstaat und so, fast liegt das ein wenig zu eindeutig auf der Hand. Aber man muss neben der starken, differenzierten darstellerischen auch die beeindruckende logistische Leistung bewundern, den Aufwand, das Timing, die Teamarbeit und die niemals hektische Präzision (Video-Direktor: Grant Gee). Es gibt keine klassischen Schnitte, sondern Sprünge der Akteure in die jeweilige Szene, auch der Ton ist grandios, düstere Klänge unterstützen die beklemmende Grundsituation, ohne sie zuzukleistern. Eine dichte, intensive Arbeit.

Und doch bleibt am Ende ein bisschen die Frage: Warum eigentlich Theater? Warum das Hybrid? Warum nicht gleich konsequent Film? Weil es als Film dann doch zu eindimensional geblieben wäre? Weil Herta Müllers Sprachkunst dann auf der Strecke bliebe? Oder einfach: Weil Katie Mitchell es kann? Vielleicht ist das gar nicht die schlechteste Begründung. Langweilig jedenfalls wird der Abend in keiner ­Minute. Ein Großteil des Publikums feiert die Inszenierung mit Bravos und gar nicht enden wollendem Applaus.

Nach der Vorstellung, das Weinglas noch in der Hand, fällt der Blick der Premierengäste unweigerlich auf die andere Straßenseite. Die Zelte, die ­Müdigkeit, die Kinder. „Haben keinen anderen Grund, außer, dass sie leben wollen.“ Wieder werden einige dieser Reisenden die Nacht auf einem provisorischen Matratzenlager im Schauspielhaus verbringen.

„Reisende auf einem Bein“ Schauspielhaus, Kirchenallee 39, nä. Vorstell. 13./14.11., 20 Uhr, und 15.11., 15 Uhr, Karten zu 10-49 Euro unter T. 24 87 13