Hamburg. Zum neunten Mal lud das Festival in Wilhelmsburg zu Pop, Kunst und Party. Ein sehr besonderes Open Air.
„Ist Zeit eine Erfindung?“, fragt die Künstlerin Maria Gideon auf einer rot beklecksten Karte. Zudem möchte die Berlinerin wissen: „Darf man Wahnsinn?“ Und: „Sind Vögel innen bunt?“ Wer am Wochenende das Hamburger Dockville-Festival besucht hat, dieses Open Air aus Pop und Kunst und mit dem wohl kreativsten Publikum des Landes, der kann alle drei Fragen getrost mit „ja“ beantworten. In seiner neunten Ausgabe hat das Dockville die einstige Industriebrache in Wilhelmsburg erneut in ein Sommerwunderland verwandelt. Ein Reich, in dem sich die Grenzen des Realen für drei Tage und Nächte ein Stück weit zu verschieben scheinen.
Handelt es sich bei dem Briten Tom Odell wirklich um einen 25-jährigen Singer-Songwriter oder sind da Billy Joel und Elton John zu einer frischeren Version ihrer selbst verschmolzen, um das Publikum mit Power-Pop-Balladen am Piano zu beglücken? Und sind das tatsächlich Luftballons vom Dom, die vor der Bühne schweben, oder machen da schlichtweg ein Delfin, ein Dinosaurier und zwei Einhörner einen Ausflug? Als die Indie-Rock-Band Interpol beginnt, die Nacht in dunkles Pathos zu tauchen, scheint eine Qualle über den Köpfen vorbeizuschwimmen. Oder handelt es sich lediglich um einen Regenschirm, der mit Tuch und Flatterbändern dekoriert ist? Fans und Künstler jedenfalls befeuern sich fleißig gegenseitig in Sachen Performance. Inspirierend sind etwa die isländischen Electro-Popper FM Belfast, die mit güldenen Fäden behängt sind. Ein Auftritt unter dem Motto: Heute ist mehr Lametta. Den Rauschgold-Schmuck trägt auch die Poolnudel auf dem Haupt. Die zum lustigen Tierchen umgebastelte Schwimmhilfe ist Festival-Accessoire der Saison – und zudem praktisches Wiederfinde-Totem im Gedränge.
Das Dockville mag vom alternativen Experiment zum professionellen Event mit gut 20.000 Fans pro Tag angewachsen sein, seinen Entdecker-Charme hat das Festival jedoch behalten. Nach wie vor kann es passieren (und ist durchaus erwünscht), dass Besucher auf dem Weg von einer der sechs Bühnen zur nächsten vermeintlich falsch abbiegen, um dann genau am richtigen Ort zu landen. Zum Beispiel bei Easy Kisi, einem knallbunten DJ-Wohnwagen, aus dem in Wiederholungsschleife tönt: „Hamburch Ciddy, Hamburch Hamburch Ciddy“. Standortmarketing in der Nische. Und auch ein Podium für die hiesige Szene. Denn zahlreiche Hamburger Acts spielen jedes Jahr am Schlengendeich. Etwa die Rockband The Last Things, die am Sonnabendnachmittag auftritt. Für die Fans eine weitere Chance, unter der Sonne im Staub zu tanzen. Eine weitere Schicht schönen Schmutz aufzutragen zum dreckigen Sound. Saubersein ist für den schnöden Alltag.
Dockville-Festival 2015 in Bildern
„#FickDieUni“ ist auf einem Pappschild zu lesen. Was nicht heißt, dass beim Dockville die Zeit schlichtweg besinnungslos verfeiert wird. Das Interesse an Musik ist spürbar. Etwa bei den Talks im sogenannten Nest, einem Bühnenrund aus Brettern, heimelig im Halbschatten eines Wäldchens gelegen. Während die Festivalgänger auf Baumstämmen oder in Liegestühlen hocken, erzählen die schwedischen Folkrocker von Friska Viljor, dass sie bei jedem neuen Album Angst haben, dass niemand mehr zu ihren Konzerten kommt. Unbegründet. Bei ihrer Show später auf der Hauptbühne animieren sie die ausgelassene Menge zum kollektiven „La La La La La“ und fragen: „Dockville, are you happy now?“ Und ob sie glücklich sind, all die mit Blumen Verzierten und mit Edding Tätowierten. All die Indianer und Supermarios. So dick kann der Glitzer gar nicht aufgetragen sein, dass er nicht durch das Leuchten und Grinsen, Johlen und Tanzen überstrahlt wird, das Auftritte von Little Dragon, Django Django oder Caribou sowie DJ-Sets von Felix Jaehn oder Weisser Rabe hervorrufen.
Das Dockville ist ein utopisches Wohlfühlbecken erster Güte. Doch damit sich das Festival nicht gänzlich in Seifenblasen-Harmonie und Konfetti-Regen auflöst, haben die Organisatoren den Hip-Hop eingeladen. Etwa in Gestalt des höchst amüsanten Rappers Fatoni, verkörpert vom Münchner Theaterschauspieler Anton Schneider. Die Grenzen im Kopf verschiebt er mit Versen wie „Scheiß auf Authentizität/ich will einfach nur ich selbst sein“. Reichlich ironisches Wasser auf das Lagerfeuer der Eitelkeiten, das das Dockville ebenfalls ist. Wenn zum Feiern stets das Fotografieren, zum Prosten das Posten gehört. Wie ein Kommentar wirkt später das Lichtspiel auf dem Rethespeicher, auf dem in großen Lettern das Wort „Dockville“ erscheint. Das Festival als riesige Projektionsfläche. Eine sehr schöne allerdings.
Reichlich reales Sendungsbewusstsein besitzt wiederum das Hip-Hop-Duo Zugezogen Maskulin, das über und gegen Fremdenhass, Homophobie und Doppelmoral rappt. Ein Druck aus Worten. Krawall, Freiheitsliebe. Beide bald schweißnass. Beide nah an der Rampe, nah an den Fans, ihrer Gang. Die Linie zwischen Publikum und Künstler, sie soll verwischen. Das gilt ebenfalls für die Kunst auf dem Gelände, die alleine oder mittels geführtem Spaziergang entdeckt werden kann.
„Unkraut“ heißt ein windschiefes Gewächshaus, das allmählich zuwuchert. Wie das Dockville-Gelände selbst „work in progress“. Und Maria Gideon hat im Kubendorf, einer Ansammlung von Mini-Galerien, ein „Museum der verlorenen Träume“ geschaffen, in dem sie an die Flüchtigkeit der Dinge erinnert. Doch selbst wenn das Dockville vorüber ist, haben die Besucher gewiss einige Träume hinzugewonnen.