Die Gallaghers in der Kabel-eins-Serie Shameless sind tabulos, kriminell – und doch so furchtbar lieb.

Es ist schon schräg. Seit Jahren füllen die Privatsender ihr Programm mit „Unterschichtenfernsehen“, wie „Titanic“ es schon 1995 nannte: „Pures Leben“, „Mein dunkles Geheimnis“, „Familien in Geldnot“, „Familien im Brennpunkt“, „Die Luder-WG“, „Schicksale – und plötzlich ist alles anders“ und wie die ganzen Pseudo-Reality-Formate alle heißen. Und dann gibt es eine US-TV-Serie, die das alles kompakt und äußerst unterhaltsam verdichtet, aber es dauert vier Jahre, bis sie endlich im deutschen Freifernsehen gezeigt wird. Von diesem Donnerstag an zeigt Kabel eins wöchentlich die zwölf Episoden der ersten Staffel von „Shameless“ in Doppelfolgen.

„Shameless“ ist in der Tat absolut schamlos, bricht Tabus und lässt überhaupt nichts aus. Stellen sie sich einen Mann wie Frank Gallagher (William H. Macy) vor, der lebt wie Fußball-Ikone George Best: „Ich habe viel von meinem Geld für Alkohol, Weiber und schnelle Autos ausgegeben, den Rest habe ich einfach verprasst.“ Nur dass Frank Gallagher nie Geld hat. Trotzdem pflegt er einen Lebensstil wie Ozzy Osbourne und Lemmy Kilmister zusammen: Er spielt nicht das Stausee-Spiel (sich langsam vollaufen lassen), er kippt einfach alles über die Kante. Bier, Schnaps, Kippen, Koks, Medikamente, er futtert Pillen wie M&M’s und erwacht auch mal Hunderte Kilometer entfernt der Heimat.

Das wäre nur ein Problem, wäre er nicht nebenbei allein(nicht)erziehender Vater von – mindestens – sechs Kindern. Die hausen mit Frank in einem prekären Vorort von Chicago und versuchen, nicht nur irgendwie Geld für Strom und Miete zusammenzuarbeiten, zu schnorren und zu klauen, sondern ihre eigenen kleinen und großen Teenagerprobleme zu überstehen. Die älteste Tochter Fiona (überragend: Emmy Rossum) übernimmt die Rolle der Ersatzmutter für den hochbegabten Talentverschleuderer Lip, den schwulen Militärfan Ian, die bauernschlau-liebevolle Debbie, den pyromanischen Carl und Säugling Liam. Jeder hat seine Lieben, Leiden, Macken – und Wege, an schnelles Geld zu kommen.

Die Simpsons oder die Bundys sind verglichen mit den Gallaghers Bilderbuchfamilien. Es wird gesoffen, es wird gevögelt, es wird geprügelt, es wird brüderlich geteilt und schwesterlich betrogen. Zartbesaitete sollten sich erst einmal den auf dem WC der Gallaghers spielenden Zeitraffer-Vorspann anschauen und dann entscheiden, ob die Schamlosigkeit von „Shameless“ für sie erträglich ist.

Aber bei aller plakativen Provokation, der vermeintlichen Überzeichnung des Alltags amerikanischer Bürger am Rande der Armutsgrenze: „Shame­less“ besitzt die eigentümliche Kraft, die Zuschauer immer noch an das Gute im Menschen glauben zu lassen. Daran, dass alle Katastrophen am Ende einen Sinn ergeben. Dass Frank mal nicht eines von Fionas oder Debbies Geldverstecken entdeckt und ausplündert, um seinen langen, laaaangen Deckel in seiner Lieblingskneipe zu begleichen. Alle Gallaghers fallen nicht hin und stehen wieder auf. Sie liegen immer und robben und kriechen vorwärts. Nicht nur Frank.

Und die Macher der vom Pay-TV-Sender Showtime produzierten, bislang in fünf Staffeln erzählten Serie haben sich ihre zahlreichen Auszeichnungen und Emmy-Nominierungen verdient. Auch wenn „Shameless“ ein Remake einer gleichnamigen, 2004 erstmals ausgestrahlten britischen Serie ist, überzeugt die Wahl der hervorragenden Darstellerriege, die Einführung neuer, nicht weniger grotesker Nebenpersonen und die konsequente Umsetzung des Prinzips Dramedy. Drama und Comedy, Tragik und Komödie gehen in „Shameless“ Hand in Hand. Schockierende Momente, wenn die Familie wieder etwas wirklich Dummes tut, treffen auf vielseitigen, mal platten und mal tiefgründigen Humor. Und immer wieder gibt es berührende Szenen des Zusammenhalts, der Nähe und des Vertrauens untereinander und die Erkenntnis: Blut ist nicht dicker als Bourbon, aber dicker als Wasser.

Familie Gallagher schlägt sich mit Nachbarn, Kriminellen und Behörden herum, mit Alkoholismus, bipolaren Störungen, Versagensängsten und – vielleicht das Allerschlimmste – mit der Pubertät. Vater, Söhne und Töchter erwachen in der Gosse, neben einem One-Night-Stand oder im Haus einer Psychopathin und stecken anschließend richtig tief drin. Aber irgendwie behalten alle den Kopf oben, finden kreative Lösungen und bewahren sich den letzten Rest Würde. Bis Frank wieder für ein Bierchen eine Runde butschern geht und der Alltag der Gallaghers erneut ins Wanken gerät.

Die Gallaghers der britischen „Shameless“-Variante leben übrigens in Manchester, der Stadt der dauerstreitenden Oasis-Brüder Noel und Liam Gallagher. Die beiden Rockstars spielen zwar keine Rolle in der Serie, würden aber gut hineinpassen.

„Shameless“ 23.7. bis 27.8., Do 22.35, 23.40, kabel eins; www.kabeleins.de