Hamburg. Junge Hamburger mit Lernschwierigkeiten sollen herausfinden, wie gut Wohngruppen und Werkstätten sind.

Sascha Koratkewitsch ist einer der zwölf Hauptdarsteller bei der Premierenfeier in Hamburg. Der 32-Jährige gehört zum ersten Jahrgang einer völlig neuartigen Ausbildungs-Einrichtung in der Hansestadt: In den nächsten zwei Jahren wird der Hamburger zum Evaluator geschult, der herausfindet, wie zufrieden behinderte Menschen mit ihren Wohngruppen und den Unternehmen sind, für die sie arbeiten.

„Für einige Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderung ist das die Chance, auf die sie ein Leben lang gewartet haben. Die Chance nämlich, sich nach einer Fachausbildung am ersten Arbeitsmarkt zu bewähren – wie alle anderen auch“, sagt Delia Ramcke, die zusammen mit Imke Ruch bei der Hamburger Arbeitsassistenz Koordinatorin für diese sogenannte Nueva-Ausbildung ist. Als „Meilenstein zur Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt“ hat Sozialsenator Detlef Scheele die Nueva-Initiative beschrieben.

Sascha Koratkewitsch kam mit 19 Jahren mit seinen Eltern nach Hamburg. Er ist in St. Petersburg geboren worden. Bei der Geburt bekam er zu wenig Sauerstoff und erkrankte an der Cerebralparese. Die Folge dieser frühkindlichen Bewegungsstörung sind Beeinträchtigungen des Nervensystems und der Motorik. Sascha bewegt sich mithilfe eines Gehwagens fort.

Nach seiner kaufmännischen Ausbildung war er Service-Mitarbeiter für Online-Marketing. Er hat telefonische Umfragen durchgeführt, und als sein Vertrag nicht verlängert wurde, erfuhr er bei der Hamburger Arbeitsassistenz von der Nueva-Ausbildung zum Evaluator.

Sascha Koratkewitsch war einer von 55 Bewerbern, die Interesse an der zweijährigen Ausbildung hatten und eine Voraussetzung erfüllten: Sie müssen selbst in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung tätig sein oder Erfahrungen mit sozialen Dienstleistungen in den Bereichen Wohngruppen, Arbeit und Pflege haben und somit selbst Nutzer sein. „Und sie sollen gerne im Team arbeiten und anderen Menschen zuhören“, sagt Delia Ramcke. Der große Vorteil der künftigen Fragesteller: Sie kennen die Bedürfnisse der Menschen, die in Wohngruppen leben oder in Werkstätten arbeiten. Sie sind Experten – und haben als solche einen viel leichteren Zugang zu den Befragten. „Die Befragung über die Qualität findet auf Augenhöhe statt“, sagt Detlef Scheele. So erhielten die Einrichtungen ein authentisches Feedback aus der Sicht der Nutzer. „Unsere eigenen Erfahrungen helfen uns, sich leichter in die Gefühlslage der Menschen hineinzuversetzen“, sagt Sascha Koratkewitsch. „Der Fragebogen wird 70 bis 100 Fragen zur Wohnsituation und zu den Arbeitsbedingungen umfassen.“ Die Antworten werden von den Evaluatoren später in den Computer eingegeben, die Ergebnisse werden ausgewertet, den Nutzern präsentiert und mit ihnen besprochen.

Nueva, die Abkürzung für NUtzer EVAluieren, kommt aus Österreich. „Seit mehr als zehn Jahren haben wir dort rund 12.000 Befragungen durchgeführt, um herauszufinden, ob die Menschen mit ihrer Wohnsituation und ihrem Arbeitsplatz zufrieden sind“, sagt Martin Konrad, Partnermanager aus Graz. Inzwischen sind bei Nueva 300 Arbeitsplätze entstanden, „die es vorher nicht gegeben hat, und die die Welt ein bisschen liebenswerter machen“. Bereits 17 Franchise-Partner nutzen das Nueva-Konzept, um Standards in Wohngruppen und Werkstätten regelmäßig zu überprüfen.

„In Hamburg ist die Evaluierung dieser Einrichtungen gesetzlich vorgeschrieben“, sagt Johannes Köhn, Geschäftsführer von „Gut gefragt“, der die Evaluatoren nach der Ausbildung anstellen wird. „Sie sollen die richtigen Fragen stellen und richtig zuhören, um herauszufinden, was die Menschen wirklich wollen.“ Das sei nicht einfach. Die Ergebnisse wären sehr wichtig für die Träger der Einrichtungen.

„Demokratie ist dann, wenn jeder gefragt wird“, sagt Martin Konrad bei der Premierenfeier in Hamburg zu den neuen Auszubildenden. „Sie werden Experten für Fragen und deshalb auch ein wichtiges Element der Demokratie.“ Seine Vision ist die Gleichstellung von Menschen. Nueva ist ein Baustein auf dem Weg dorthin.

Sascha Koratkewitsch freut sich am meisten auf die Begegnungen. „Mich interessiert die Lebenswirklichkeit der Menschen. Ich will wissen, wie sie wohnen und arbeiten und mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben. Und vielleicht helfen unsere Fragen ja, ihre Situation, wenn nötig, zu verbessern.“