Hamburg. Dörte Hansen gelingt mit ihrem Debüt „Altes Land“ eine Norddeutschland-Revue zwischen Ottensen und Provinzidyll – und ein Bestseller.
Ein Roman, der „Altes Land“ heißt, in einem kleineren Verlag erscheint, von einer Debütantin geschrieben wurde, von der Literaturkritik wenig beachtet wird und nun auf Platz drei der Bestsellerliste mit 60.000 verkauften Exemplaren in zwei Monaten steht – wie ist das denn passiert?
Es ist, zunächst einmal, ein Triumph des Alten Landes: Land der Bauern, der Ausflügler, der Äpfel, der Kirschen; Projektionsfläche für Hamburger Wünsche. Es geht um Stadtflucht und Landlust, verknüpft in einer Geschichte über störrische Frauenfiguren, die da bleiben, wo sie sind oder da hingehen, wo sie sein müssen: Dörte Hansen, früher NDR-Redakteurin, jetzt Schriftstellerin, hat jedenfalls ihr Gespür bewiesen für das, was die Leute lesen wollen.
Bestseller kommen ja immer irgendwie unverhofft, wenn sie von bislang unbekannten Autoren geschrieben werden. Andererseits ist Hansens so furios eingeschlagenes Debüt halt doch auch sehr auf unsere Gegenwart gemünzt – inklusive eines Figuren-Feintunings, das den Sohn eines Landwirts nicht einfach nur das Hof-Erbe ausschlagen lässt. Nein, er zieht gleich ganz weg aus Deutschland und wird in Japan Sushi-Roller.
Dörte Hansen ist nicht immer so originell, sie scheut vielmehr Strereotypen nicht – was nichts Falsches sein muss. Wie man überhaupt sagen muss, dass man zwar versuchen kann, dem Charme dieses schnittig geschriebenen Norddeutschland-Romans nicht zu erliegen, dabei aber schnell aufgibt. Denn bei der 1964 in Husum geborenen Hansen, die den pointierten Kolumnenstil so gut beherrscht, dass man manchmal glatt übersehen könnte, dass sie auch literarisch schreibt, hat das Abklappern der Klischees absolut Methode.
„Altes Land“ bietet die unbedingt vorabendfernsehtaugliche Art von Unterhaltsamkeit, bei der Gefühligkeit und Herzweh auf einprägsame Szenen treffen. Nur dass Dörte Hansen viel intelligenter ist als die üblichen Skriptschreiber. Sie hat mal in Ottensen gelebt, ist aber mittlerweile selbst in diese sagenhafte Nahtourismus-Gegend zwischen Hamburg und Stade gezogen, in der die fabelhaften Reetdächer direkt unter dem Himmel der Landeier liegen – man darf ihr also unterstellen, dass sie weiß, worüber sie schreibt.
In der Hauptsache handelt „Altes Land“ von Vera Eckhoff, die im Kindesalter ins Alte Land kam – aus einem noch viel älteren, zumindest was die Mythostauglichkeit angeht. Ihre Mutter stammte aus ostpreußischem Adel, und sie zog im Januar 1945 natürlich über das Haff, das berühmte, die zugefrorene Meeresbucht im Übergang von Polen nach Deutschland, Ort unzähliger Dramen, in denen die Seelen der Flüchtlinge vereisten. Die Kälte blieb, und so sind die nachfolgenden Generationen auch oft verkühlt. So jedenfalls zeichnet Hansen die Zugezogenen und deren Nachfahren.
Vera bleibt, als Junggesellin, Pferdeliebhaberin und Zahnärztin, da, wo es sie hin verschlagen hat und wo sie nie richtig dazugehören kann: Der wahre Landadel der Eingeborenen vergisst nicht, wer später kam. Und viel später noch zieht Veras Nichte, die schwer Ottensen-traumatisierte Anne Hove, mit ihrem Sohn ins Alte Land und in den Haushalt der spröden Frau, um die Trennung vom lausigen Vater des Jungen zu überwinden.
Die gelernte Tischlerin Anne, die unversehens in eine leicht eingedellte Existenz geraten ist, möbelt das massive Bauernhaus ebenso auf wie ihr verwundetes Selbst, weil die ländliche Scholle auf die Stadtstresser grundsätzlich so heilsam wirkt: Wer kann schon etwas gegen Trecker-Fahrer haben, die Plattdeutsch sprechen? In „Altes Land“ werden die Dörfler so liebevoll porträtiert, wie das eben geht. Sie sprechen wenig, und manchmal ist das genau richtig so.
Mit Hansens collagenhafter Erzählweise entsteht eine Familienchronik, die von den Eckhoffs, den von Kamckes und den Hoves. Der Weg zwischen Stadt und Land ist durchlässig. In beide Richtungen: Veras Mutter, die Ostpreußin Hildegard von Kamcke, heiratet zuerst einen Eckhoff, dann einen Hove. Letzterer lebt in Blankenese, mit ihm bekommt Hildegard, die Haff-Bezwingerin, noch eine weitere Tochter. Vera, ihre erste, geht in die Stadt nur zum Studieren.
Hansen lässt aus dem überspannten Großstadtleben die Luft heraus
Hansen dekliniert in „Altes Land“ das ganze Stadt-Land-Ding durch, sie arrangiert in einem gut gecasteten Figurenensemble den Zeitgeist so, dass er maximal kenntlich ist. Überheblicher Ex-Journalist, der jenseits von Eppendorf jetzt auch beruflich wiedergeboren werden will, früh verwitweter Altbauer, der sich von seiner Brut entfremdet, enorm zeugungswilliger Jungbauer, der seiner Frau zum Hochzeitstag Werder-Bremen-VIP-Karten schenkt – von solchen Idealtypen des Skurrilen oder völlig Normalen (kommt ganz auf die Perspektive an) liest man sehr gern.
Weil Hansens Blick auch ein bisschen böse ist, gerade, wenn er auf Hamburger Ökomütter fällt, die ihre Kinder „wie Preispokale durch die Straßen von Ottensen trugen“. In puncto Originalität, Unverstelltheit, Erdung – allesamt Primärsehnsüchte der im digitalen Takt der Moderne geprügelten Dauer-Aufgeregten – gehört ihre Sympathie ganz klar dem Land. Hansen gönnt sich kurze Kitsch-Momente, gerade was die Beziehung von Vera zu ihrem Stalingrad-verheerten Ziehvater angeht, ist aber zu smart, um das Leben derer auf dem Land zu überromantisieren. „Freu dich, du bist im Landkreis Stade“ steht am Fähranleger an der Elbe. Aber die Fahnen hängen wie nasse Lappen an den Masten.
Weshalb der Erfolg von „Altes Land“ in mancherlei Hinsicht eben doch keine Überraschung ist. Wer sich über „Manufactum“-Enthusiasten lustig macht, aber auch ganz ernsthafte Sätze über den in den robusten Bauernhäusern Stein gewordenen, Jahrhunderte andauernden Selbstbehauptungswillen der Bewohner formuliert und aus den Überspanntheiten des Großstadtlebens die Luft heraus lässt, der findet das, was man den „richtigen Ton“ nennt. Auch wenn der manchmal vielleicht zu geschmeidig ins Ohr geht.
Und im Falle von Dörte Hansen hat man es übrigens auch mit einem perfekt durchkomponierten, ironisch abgefederten Buch der Beruhigung zu tun: Man kann halt überall glücklich sein, wenn man es richtig anstellt. Diese Einsicht kann man brauchen in diesen turbulenten Zeiten.