Hamburg. Die Freie Szene ist eine prekäre. Das Festival „Hauptsache Frei“ zeigt jetzt die künstlerische Kraft solcher Theaterarbeit.

Es klingt so schräg, als würde im Raum nebenan jemand in den Saiten des aufgeklappten Flügels herumhopsen. Zing, zing, zing, zong. Und es klingt so laut, als sei da gar keine Wand zwischen dem Mann am (oder im) Flügel, den anderen Musikern auf der Probebühne und dem Büroraum des Dachverbands Freie Darstellende Künste Hamburg. Quiiiieeetsch, zing, zing, zing, zong, rumms, rumms, zong. Nun ja, genau genommen ist da auch keine Wand. Nur eine Spanplatte und etwas Schaumstoff, eher ein Sicht- als ein Lärmschutz, um die Turnhalle der ehemaligen Schule an der Wartenau und den Büroplatz von Anna Schildt voneinander abzutrennen.

Anna Schildt, Vorstand des Dachverbands und Leiterin der Geschäftsstelle, lacht, und ihre Korkenzieherlocken wippen fröhlich in alle Richtungen. Auch eine Art von Chaos ist das, aber eines, dem man gern zuschaut. „Uns stresst das nicht, dass man hier die Proben hören kann“, winkt sie ab. Dass es das überhaupt gibt, einen eigenen Proberaum für die Freie Szene, 180 Quadratmeter, ohne Säulen, mit einer Deckenhöhe von sieben Metern, in denen das von der Kulturbehörde gesponsorte Licht hängt. Und ein Büro, in dem der Dachverband nicht nur die Belegung des Proberaums organisiert, sondern auch Beratungsarbeit anbietet, Ausschreibungen an die Mitglieder weitergibt und Förderanträge prüft, das sei „ein riesiger, riesiger Erfolg“.

Immer schon habe man solch einen Ort in der Stadt gebraucht und das selbstverständlich auch so kommuniziert. Jetzt, da es diese Räume in der Wartenau seit rund einem Jahr gibt, sei das Signal wichtig: „Die werden auch genutzt!“ Und wie: Die Auslastung beträgt 100 Prozent, manchmal mehr, wenn ein bezahlter Monat von einer Gruppe nicht voll ausgeschöpft, sondern einfach tage- oder stundenweise noch einmal vermietet wird. Proben darf hier jeder, Tänzer, Musiker, Schauspieler, Performer, aber Mitglieder des Dachverbandes haben ein Vorrecht – und eine günstigere Miete. Ein Tag kostet für sie 35 Euro, eine Woche 200 Euro, ein ganzer Monat 700 Euro.

Wer verstehen möchte, wie die Bedingungen der sogenannten Freien Szene sind, jener Künstler, in keiner Institution fest angestellt, die selbst produzieren, selbst spielen, selbst ins Risiko gehen, der muss die Regisseurin Anna Schildt besuchen. Schön ist ihr Quartier an der Wartenau nicht, eher schon etwas, nun, Optimisten würden wohl sagen: abgeliebt. Auf dem Boden die eingetrockneten Kleckse der HfbK-Bühnenbildklasse, die hier zuvor Unterschlupf gefunden hatte, an den Wänden Tapetenstückchenreste. Die Umkleide: eine stehengebliebene Kulisse des Schauspielhauses, das hier in Karin Beiers erster Spielzeit eine Produktion gezeigt hat. „Schrottig, aber egal“, sagt Anna Schildt. Sie ist da pragmatisch. Auf die Bitte, während des Gesprächs das Fenster zu schließen, es sei doch recht frisch, entgegnet die Hochschwangere achselzuckend: „Das Fenster ist nicht offen. Es ist kaputt.“

Ein bisschen ist es wie damals bei Klaus Wowereit und Berlin: arm, aber sexy

Hier etwas geflickt, dort ein Provisorium, in mancherlei Hinsicht reichlich Luft nach oben, aber in freudiger Erwartung und voller Energie, das ist in dieser Kombination eigentlich ein recht passendes Bild. „Hauptsache Frei“ heißt das neue Hamburger Festival der Szene, und im Titel schwingt auch ein trotziger Stolz mit, ein bisschen wie damals bei Klaus Wowereit und Berlin: arm, aber sexy. Das Festival möchte nicht nur Werkschau sein, sondern auch Diskussionsplattform: „Was bedeutet Freiheit? Wovon möchte man frei sein und welche Rahmenbedingungen braucht es, um dem eigenen professionellen Anspruch gerecht zu werden?“, fragen die Festivalmacherinnen Anne Schneider und Sarah Theilacker.

60.000 Euro hat die Kulturbehörde gegeben, um das zu stützen, was „für das kulturelle Leben in unserer Stadt von großer Bedeutung“ ist, wie Kultursenatorin Barbara Kisseler in ihrem Festival-Grußwort schreibt. Im Vorfeld hatte es innerhalb der Szene heftige Diskussionen gegeben darüber, warum ein neues Festival zwei bewährten (150% Hamburg und DanceKiosk) vorgezogen wurde, und auch darüber, ob das Festival womöglich selbst auf die Ausbeutung der Teilnehmer spekuliert.

Denn eine Gagenuntergrenze ist eines der politischen Hauptanliegen auch von Anna Schildt und dem Dachverband, gewissermaßen der Mindestlohn der Freien Szene. Festgelegt sind 150 Euro am Abend, darunter gilt es gewissermaßen offiziell als (Selbst-)Ausbeutung. Das Festival hält diese Mindestgage ein, in der Ausschreibung wurde sogar explizit der Anspruch formuliert, „den selbstausbeuterischen Festivalrealitäten einen Riegel vorzuschieben“. Dass dieses hehre Ziel jedoch auch bei „Hauptsache Frei“ nicht jeder als erfüllt betrachtet, zeigen insbesondere sieben öffentlichkeitswirksam zurückgezogene Bewerbungen. Ihr „Nein zur ,Hauptsache dabei’-Mentalität“, begründen die Theatermacher, darunter die schon länger in Hamburg arbeitende Choreografin Regina Rossi, unter anderen mit dem Vorwurf, das Festival habe es „als Neugründung verpasst, sich politisch zu positionieren und unabhängig zu überlegen, welche Bezahlungen und Probensituationen es braucht, um der Öffentlichkeit gut geprobte und professionelle Wiederaufnahmen zu präsentieren“. Die Festivalmacher gehen offensiv mit der Kritik um und bieten Diskussionsrunden zu den Themen „Was kann ein Festival leisten?“ und „Qualität honorieren“ an.

Unstrittig ist: Wer von der Darstellenden Kunst leben möchte, für den müssen Applaus und künstlerische Anerkennung von besonders hohem Wert sein – der finanzielle Gewinn hält sich doch arg in Grenzen. Das künstlerische Nettoeinkommen in dieser regional verankerten und international vernetzten Szene beträgt bundesweit im Durchschnitt laut einer aktuellen Analyse des Bundesverbandes Freier Theater 9391 Euro. Im Jahr.

Caroline Sassmannshausen arbeitet bei der Hamburgischen Kulturstiftung, auf ihrem Tisch landen immer wieder Projektförderanträge der Freien Szene. Und sie ist Mitautorin einer Studie, die schon 2011 die viel zu geringe öffentliche Ausstattung bemängelte. Die „Potentialanalyse der freien Theater- und Tanzszene“ des Theaterwissenschaftlers Nikolaus Müller-Schöll hatte im Vergleich zur ausgezahlten Fördersumme einen deutlich erhöhten Bedarf festgestellt – was die Jury der Projektmittelvergabe auch in diesem Jahr wieder ausdrücklich betont. Zwar ist die Kulturbehörde seit 2011 einigen Empfehlungen gefolgt: Es wurde beispielsweise eine dreijährige kontinuierliche Förderung, die Konzeptionsförderung, eingeführt und eine Nachwuchsförderung eingerichtet. Das sei aber bei weitem nicht ausreichend, sagt Caroline Sassmannshausen: „Vor allem eine massive Aufstockung der Produktionsfördermittel wäre wirklich wichtig, um die prekären Arbeitsbedingungen der freien Akteure zu verbessern.“

Anna Schildt kann das nur unterstreichen. „Natürlich sind nicht alle Anträge förderwürdig“, gibt sie unumwunden zu. Darum gehe es ihr auch gar nicht. „Wichtig ist, dass die Fördersumme so aufgestellt ist, dass die Jury, die darüber entscheidet, gut arbeiten kann.“ Das ist derzeit nicht gegeben: Die Fördersumme für sämtliche Module in den Bereichen Freies Theater, Tanz, Performance sowie Kinder- und Musiktheater liegt bei gerade einmal einer Million Euro pro Spielzeit. Für alles. Zum Vergleich (auch, wenn dieser Vergleich ungerecht ist und hinkt): Die Spielzeitförderung des Schauspielhauses (inklusive Junges Schauspielhaus) liegt bei 25,1 Millionen Euro.

Anna Schildt pustet sich eine Locke aus der Stirn, die Musikperformer in der Probenturnhalle nebenan drehen offenbar eine weitere Runde im Piano. Eine Million Euro. Nicht einmal ein Drittel der eingereichten Projekte könne damit überhaupt gefördert werden. „Jeder Antrag wird gekürzt“, sagt Anna Schildt, „jeder.“ Woran aber können Künstler, die ein Aufführungskonzept einreichen, das ein Bühnenbild umfasst, Kostüme, Mieten, Scheinwerfer, Marketing und Verwaltung, dann sparen? Eben. Nur an ihrer eigenen Gage. „Am verhandelbarsten und damit am verwundbarsten sind die Honorare.“

Caroline Sassmannshausen plädiert für einen Ausbau der Basisförderung zur Grundfinanzierung der laufenden Theaterarbeit. Es sei „manchmal schon bitter“, wenn sie bei der Hamburgischen Kulturstiftung, die übrigens auch das Festival „Hauptsache Frei“ fördert, Anträge von Gruppen oder Einzelkünstlern vorliegen hat, die „sich von Projektantrag zu Projektantrag hangeln, obwohl sie schon so lange in dieser Stadt sind und anerkanntermaßen gute Arbeit leisten“. Eine mehrjährige Basisförderung wäre wichtig, um solche Künstler in Hamburg zu halten und zu stärken.

Die Freie Szene belebt und inspiriert die Hamburger Kultur insgesamt

Anna Schildt, die nicht nur Lobbyistin, sondern selbst Regisseurin ist, die unter Jürgen Flimm Schauspieltheaterregie studiert hat, kennt den Zwang. „Ich habe schon einmal in einer Kita geprobt, die kurz vor dem Umbau stand, und schon mal in einem Supermarkt. Manchmal ist es bizarr, aber man versucht irgendwie alles.“ Umso glücklicher ist sie, dass es mittlerweile den Proberaum in der Wartenau gibt, kaputte Bürofenster hin oder her. „Wir wollen ja vor allem, dass die Leute interessant finden, was wir machen.“ Dafür sind die drei „P“ wichtig: gute Probenmöglichkeiten, gute Presse, gutes Publikum. „Hauptsache Frei“ ist eine Plattform, die vor allem für die letzten beiden Punkte entscheidend sein kann. Da muss man gar nicht erst den viel strapazierten Begriff des „kulturellen Humus“ bemühen: Die Freie Szene belebt und inspiriert die Hamburger Kulturszene insgesamt.

„Immer schön in Bewegung bleiben“, lautet also eines der Festivalmottos. Gemeint ist nicht allein, aber auch, der Wechsel der Vorstellungsorte: Gespielt wird im Lichthof Theater in Bahrenfeld, im Ottensener Monsun Theater (der ältesten Off-Spielstätte Hamburgs), im Sprechwerk in Borgfelde und auf K3, dem Tanzzentrum auf Kampnagel. Immer in Bewegung bleiben, das gilt aber auch für Anna Schildt. Weil sie nicht nachlassen will, sich für die Szene einzusetzen, für die Erhöhung der Mittel, für eine institutionalisierte Geschäftsstelle, gerade jetzt, da eine neue Legislaturperiode beginnt. „Wer aufhört sich zu engagieren, hat schon verloren“, sagt Anna Schildt. Zing, zing, zong, klingt es dazu geradezu nachdrücklich aus dem Nebenraum, zong, zong, rumms.

Hauptsache Frei 15. bis 18. April, elf Produktionen im Lichthof, Monsun, K3 und Sprechwerk. Karten: 12,-/8,-/5,-; Programm unter www.hauptsachefrei.de