Hamburg. Heute wird der Preis der Leipziger Buchmesse vergeben. Mit dem feinsinnigen Alltagsbeobachter Jan Wagner ist auch ein Hamburger nominiert.

Wenn heute der Preis der Leipziger Buchmesse vergeben wird, ist mit Jan Wagner auch ein gebürtiger Hamburger nominiert. Als einziger Dichter auf der Shortlist konkurriert er mit den Erzählern Michael Wildenhain („Das Lächeln der Alligatoren“) und Norbert Scheuer („Die Sprache der Vögel“) sowie den Erzählerinnen Ursula Ackrill („Zeiden, im Ja­nuar“) und Theresa Präauer („Johnny und Jean“). Chancen auf den Sieg sollte er haben – sein Lyrikband „Regentonnenvariationen“ ist sehr gelungen.

Hamburger Abendblatt: Zum ersten Mal ist ein Lyrikband für einen der beiden Buchmessenpreise nominiert. Kommt das überraschend?

Jan Wagner: Durchaus. Lob und Anerkennung kommen zwar immer unverhofft, aber diese Einladung nach Leipzig war doch besonders überraschend – und eine Freude.

Lyrik gilt als die Textgattung für Liebhaber. Sie hat es schwer, ein größeres Publikum zu finden – gerade weil sie die Disziplin, die Sprache am kunstvollsten einsetzt. Nervt die Marginalisierung?

Wagner: Gedichte werden seit Menschengedenken geschrieben – und es gibt sie, allen Unkenrufern zum Trotz, immer noch. Es ist wahr, die Zahl ihrer Leser ist überschaubar – dafür sind diese Leser überaus treu und ihre Zahl immerhin recht konstant. Die Wahrheit ist, wie ich glaube, dass es ein universales menschliches Grundbedürfnis an Lyrik und Poesie gibt, das heißt: Das Publikum ist unendlich, nur ahnt es noch nicht, daß es das Publikum ist.

Sie gelten als einer der profiliertesten deutschsprachigen Lyriker. Mit der Leipzig-Nominierung bekommt die Lyrik nun viel Aufmerksamkeit – sehen Sie sich derzeit als Kämpfer für alle Dichter?

Wagner: Ich freue mich sehr über die Nominierung – nicht zuletzt ist meine Hoffnung aber tatsächlich, dass sie der Lyrik, die hierzulande seit über zehn Jahren so vielstimmig und aufregend wie schon lange nicht mehr ist, ein bisschen mehr Rampenlicht verschafft.

In Ihren Poemen verdichten und kristallisieren Sie den Alltag. Wenn Sie über ein Tischgedeck schreiben, kommt das einer Nobilitierung der Serviette gleich. Könnte man Ihr poetisches Programm als Veredelung des Banalen beschreiben?

Wagner: Danke für diese wunderbare Formulierung von der „Nobilitierung der Serviette“. Alles kann ja zum Gedicht werden, so dass man als Lyriker im besten Sinne als Eklektizist und ­Allesverwerter operiert – und wirklich ist es so, dass das vermeintlich Vertraute, das Alltägliche, an das wir uns so sehr gewöhnt haben, dass wir es gar nicht mehr wahrnehmen, dass gerade diese unscheinbaren Gegenstände, also Serviette, Seife, Nagel, Teebeutel, sich im Gedicht als der größte Schatz erweisen können. Walt Whitman schreibt an einer Stelle seines Großgedichts ­„Leaves of Grass“, dass jene Brombeere dort es verdient habe, in den Hallen des Himmels zu hängen, und so ist es. Freiheit, Liebe, Tod – die großen Themen schwingen sicherlich immer mit in der Dichtung, aber wer sich hinsetzt und mit diesen allzu allgemeinen und deshalb leeren Begriffen beginnt, wird in der Regel ein sehr banales Gedicht schreiben. Wer sich aber ganz auf den banalen Gegenstand konzentriert, sich ihm widmet, von ihm ausgehend dichterisch tätig wird, könnte am Ende ein großartiges Gedicht über Freiheit, Liebe oder Tod zustande bringen.

Neben Natur- und Reisegedichten umfasst „Regentonnenvariationen“ einige Gedichte mit Musikbezügen. Ist es Ihnen wichtig, dass Lyrik auf der formalen Ebene eine hohe Musikalität aufweist?

Wagner: Ja, die klanglichen Qualitäten der Sprache sind in der Lyrik von höchster Bedeutung. Im Titel des Buches kommen also zwei Aspekte zusammen, die mir wichtig sind, das Objekt am Rande unserer Wahrnehmung und die Musik.

In einem der schönsten Gedichte in ­„Regentonnenvariationen“ ist das Kind „Im Brunnen“. Es betrachtet von seiner „Kapsel aus Feldstein“ aus nichts weiter als das „kostbare, runde Blau“. Ist diese Abgeschiedenheit zumindest teilweise eine Notwendigkeit für den Dichter?

Wagner: Es freut mich, dass gerade dieses Gedicht Ihnen gefällt. Es muss nicht gleich ein Sturz in den Brunnenschacht sein – schon ein kleiner Schritt zurück kann die Perspektive verändern und dazu führen, dass man erneut so zu staunen beginnt, wie die Dinge um uns herum es verdient haben. Osip Mandelstam hat das Staunen einmal als Grundtugend des Dichters bezeichnet – eine schöne Aussage. Wer so staunt, ist wirklich abgeschieden, abwesend, entrückt, und dennoch ganz bei der Sache.

In der Sammlung, der Konzentration und der Genauigkeit, die mit dem Schreiben, Lesen oder Hören eines Gedichts verbunden sind, manifestieren sich kulturelle Praktiken, die die Gegenwart eigentlich gerade nicht beschreiben. Ist Lyrik auch ein Gegengift zum grassierenden Multitasking, zur Bilderflut und Klick-Manie?

Wagner: Hast ist jedenfalls unvereinbar mit einem Gedicht, beim Schreiben wie beim Lesen, und insofern ist es immer auch eine Einladung zur Entschleunigung, eine Einladung, innezuhalten und die Bilderflut weiterrauschen zu lassen, um endlich einmal wieder zu sehen, sich zu entkabeln, zu entstöpseln, um einmal wieder zu hören, in die Stille hineinzulauschen. Ich selbst empfinde das jedenfalls als wohltuend.

Wer hat Sie für Lyrik begeistert?

Wagner: Ich habe im Alter von ungefähr fünfzehn Jahren angefangen, Gedichte zu schreiben – oder vielmehr damit begonnen, von Vorbildern wie Georg Heym, Georg Trakl, rasch dann von englischen Dichtern wie Dylan Thomas und anderen zu lernen. Man sucht sich seine Lehrer ja gewissermaßen selbst aus – und muss sich dann irgendwann auch selbst wieder von ihnen lösen.

Erinnern Sie sich an Ihren Deutschunterricht in Ahrensburg?

Wagner: Und ob. Noch lebhafter erinnere ich mich aber an meinen Englischlehrer, der als Verehrer von Shake­speare die Stunden gelegentlich damit begann, einen Monolog aus Hamlet, Macbeth oder Othello zum Besten zu geben, der uns auch zahlreiche Dichter zu lesen gab, die auf keinem Lehrplan vorkamen – und mit seiner Begeisterung für die Poesie ansteckend wirkte.

Wissen Sie, was heute in den Leistungs- und Grundkursen durchgenommen wird? Welche Dichter würden Sie Lyrik-Einsteigern empfehlen – unter den Klassikern und den Zeitgenossen?

Wagner: Hin und wieder bekommt man bei Schulbesuchen oder im Gespräch einen Einblick – und ich nehme an, dass an den Klassikern, also neben den schon Genannten, an Goethe, Hölderlin, Rilke, Brecht und Benn kein Weg vorbei führt. Aber alles hängt ja immer davon ab, wie begeisterungsfähig der Lehrer selbst ist. Ich würde sicher noch Huchel nennen und, was fremdsprachige Dichter angeht, W.C. Williams, Elizabeth Bishop, Zbigniew Herbert und Seamus Heaney – und die Zeitgenossen Charles Simic, Adam Zagajewski und Tomas Tranströmer. Das ist mit Sicherheit genug lyrischer Stoff, um nie mehr mit dem Lesen aufhören zu wollen.