Für sein neues Reportageformat ist der Hamburger Journalist in das Land gereist, in dem Jesiden aus Deutschland gegen den IS-Terror kämpfen.
Hamburg. „Das ist der Vorhof zur Hölle! Wir sind in einem Camp in Zhako, das man nicht als solches bezeichnen kann. 2800 Jesiden leben unter schlimmsten Bedingungen – irgendwo im Nirgendwo unweit der türkischen Grenze. Die Lebenssituation ist so katastrophal, dass alle in unserem Team verstummen.“ So beginnt das Tagebuch von Reinhold Beckmann, 59, über seine Irak-Reise.
Der Hamburger Journalist hat sich für den Auftakt seiner Reportagereihe in der ARD ein Land ausgesucht, das gerade vor den Augen der Weltöffentlichkeit zerfällt. Rund zwei Millionen Menschen sind hier auf der Flucht. Beckmann und sein Koautor Helmar Büchel sind mit Bildern aus dem Irak zurückgekehrt, die auch den Zuschauer manchmal verstummen lassen. Vor allem, wenn es um das Leid der vielen Kinder geht.
Ihre Väter sind getötet worden, als die IS-Milizen im August vergangenen Jahres die Dörfer der Jesiden im Sindschar-Gebirge überrollten. Ihre Mütter und ihre großen Schwestern sind von den IS-Verbrechern gefangen genommen, missbraucht und verschleppt worden. 5000 Frauen werden vermisst. „Sie mussten zum Islam konvertieren, um zu überleben“, sagt Beckmann. „Sie sollen nach Saudi-Arabien, nach Katar oder in den Jemen gebracht und versklavt worden sein.“
Immer wieder halten Männer stumm die Ausweise ihrer vermissten Frauen in die Kamera. Andere schreien vor Wut. Ein junger Mann zeigt ihnen das Bild seiner Frau, die er seit sechs Monaten nicht mehr gesehen hat. Dann kramt er ein altes Handy aus seiner Hosentasche. Der Bildschirm ist zersplittert, aber man kann ein Baby erkennen und hören, wie es ruft. Seine Tochter. „Dies ist das Einzige, was ihm von seiner Tochter geblieben ist“, sagt Beckmann.
Auch viele deutsche Jesiden kämpfen im Irak gegen IS-Terroristen
In dem Camp, das im Grunde nur aus Betonruinen besteht, hat das ARD - Team an einem Nachmittag die Kinder von Zhako fotografiert. Der Andrang war riesengroß. Nach drei Stunden haben sie 170 Kinder porträtiert. 340 große, traure, leere, sehnsüchtige Augen. „Wir wollten ihnen auf diese Weise eine Stimme und eine Identität geben“, sagt Beckmann. Sie haben jeden Namen und das Alter notiert. Sie treffen zwei Brüder. Zwölf und 13 Jahre alt. „Sie hatten diese erschreckten Augen, wie so viele Kinder dort.“ Die beiden sind ohne ihre Eltern in Zhako angekommen, die auf der Flucht von den IS-Milizen erschossen worden sind. Beckmann hat versucht mit ihnen zu sprechen. Aber er merkt sehr schnell, dass das nicht geht. Die Brüder suchen ständig die körperliche Nähe des anderen. Sie halten sich ganz fest an den Händen.
Reinhold Beckmann und Hilmar Büchel sind auch deshalb zu den Jesiden, dieser verfolgten religiösen Minderheit im Norden des Irak, gefahren, weil sie der Meinung sind, dass die Flüchtlinge keine große Lobby haben. Im Gegensatz zu den IS-Kämpfern, über die immer wieder ausführlich berichtet werden würde.
Mittlerweile sind aus Deutschland viele Jesiden in den Irak gefahren und kämpfen dort gegen die IS-Terroristen. Einer von ihnen ist Kasim Shesho. „Der Löwe vom Sindschar“, hat ihn der „Spiegel“ genannt. Kasim Shesho kennt den Krieg. Er hat in den 1970er-Jahren für die Kurden gegen Saddam Hussein gekämpft. Er kam ins Gefängnis, wurde gefoltert, später freigelassen und floh nach Deutschland. Kasim Shesho bekam die deutsche Staatsbürgerschaft und arbeitete dann als Gärtner in Bad Oeynhausen.
Als die Angriffe des IS begannen, war er gerade zu Besuch im Irak. Kasim Shesho trommelte alte Weggefährten zusammen und verteidigt seitdem mit einer eigenen Bürgerwehr ein Gebiet im Sindschar-Gebirge.
Können Waffen Menschenleben retten?
Die Reportage begleitet Kasims Söhne Seleman und Fahim zum Vater ins Frontgebiet. Fahim verfügt über eine Grundausbildung bei der Bundeswehr. Er wies seinen Bruder in den Gebrauch eines M16-Sturmgewehrs ein. „Vor unseren Augen verwandelte sich Seleman, der ungediente Jurastudent aus Hannover, in einen Kämpfer und tauschte die Jeans gegen den Tarnanzug“, sagt Beckmann. Auch deshalb hat er die Sendung „Unser Krieg? Deutsche Kämpfer gegen IS-Terror“ genannt. Ihnen gegenüber stehen etwa 600 deutsche Dschihadisten, die der Verfassungsschutz in den Reihen des IS vermutet. Eine bizarre Realität, wenn im Norden Iraks an einer Frontlinie, manchmal nur 500 Meter voneinander entfernt, wahrscheinlich Männer aufeinander schießen, die den gleichen deutschen Pass besitzen.
Auch Adnan Shesho gehört dazu. Er hat den deutschen Reportern zuvor mehrere aufgeworfene Erdhügel gezeigt. Dort liegen Kleidungsstücke, leere Patronenhülsen und Knochenreste. Hier seien am 3. August 2014 etwa 60 bis 70 Jungen und Männer aus dem nahe gelegenen jesidischen Dorf Hardan von der IS erschossen worden, heißt es. Ihre Leichen wurden in Massengräbern verscharrt.
„Adnan zeigte uns ein weißes Tuch neben einem schwarzen Ring, die typische Kopfbedeckung eines älteren Jesiden“, sagt Beckmann. Das Tuch weist dort, wo es normalerweise den Hinterkopf bedeckt, drei Einschusslöcher auf. Auf einem anderen Hügel beginnt ein jesidischer Kämpfer mit bloßen Händen zu graben. Nach zwei Minuten legt er menschliche Überreste frei. In der Jacke des Toten findet der Mann einen irakischen Personalausweis. Khero Khodeda Ravo. Religionszugehörigkeit: Jeside. Alter: 44 Jahre.
„Jeder Terrorist, den wir hier töten, kann in Europa keine Anschläge mehr verüben“, sagt Adnan Shesho in die Fernsehkamera, während er das Magazin seiner alten Kalaschnikow überprüft, „ich fühle mich hier als Deutscher, und ich kämpfe hier auch für Deutschland.“
Können Waffen Menschenleben retten? „Ja“, sagt Reinhold Beckmann, der Kriegsdienstverweigerer. „Ich habe das jetzt zum ersten Mal verstanden.“
Können Filme Menschen retten? „Das sicherlich nicht“, sagt er. „Aber sie können Menschen aufklären. Und eine Nähe zum Geschehen herstellen – auch wenn es manchmal unfassbar ist.“
„#Beckmann – Unser Krieg? Deutsche Kämpfer gegen IS-Terror“, 20.15 Uhr, ARD