Der Musiker Jochen Distelmeyer veröffentlicht seinen ersten Roman „Otis“ – ein Sittenbild der Gegenwart. Am 8. Februar liest er in Hamburg.
Hamburg. In diesem Roman steuert alles auf die eine Party zu, an der sich die Dinge entscheiden. Oder eben nicht. Im Falle von Tristan Funke muss man sagen: Sie entscheiden sich ganz bestimmt nicht. Funke ist ein ziemlich wankelmütiger Typ, weshalb er plötzlich mit vier Damen aus seinem amourösem Umfeld auf zwei Quadratmetern zusammensteht – wie delikat!
Der Romanheld verlässt grußlos den Haufen abgelegter und aktueller Liebhaberinnen. Am nächsten Tag datet er Frau Nummer fünf. Der Griechenheld Odysseus hat das, grob gesehen, genauso gemacht: Auf seiner Irrfahrt landete er bei etlichen weiblichen Geschöpfen. Nicht nur deswegen ist Odysseus überaus präsent in Jochen Distelmeyers Debütroman „Otis“, der jetzt erscheint. Ein Roman, in dem der zu Recht als einer der fähigsten deutschen Songwriter geltende Blumfeld-Chef Distelmeyer seine frisch entdeckte Lust am romanhaften Erzählen erprobt. Sein letztes Album „Heavy“ ist sechs Jahre alt – und „Otis“ somit Distelmeyers erste künstlerische Tat seit längerer Zeit.
In dem knapp 280 Seiten langen Roman wird vor Berliner Kulisse vor allem vom unentschlossenen Paarungsverhalten eines mittelalten Mannes und ein bisschen auch von der prekär lebenden kreativen Klasse der Hauptstadt erzählt. Tristan Funke ist noch nicht lange in der Stadt, er ist ein Flüchtling aus Hamburg: Dort arbeitete er in einem Verlagshaus und wurde neben seiner schnieken Lebensgefährtin zum Langweiler: Trennung von beiden unvermeidlich. Und was macht ein solcherart vom Schicksal Gepeinigter?
Hamburg schrumpft auf provinzielle Größe
Er geht nach Berlin, denn da ist alles und jeder aufregend. Der weite Horizont der Weltstadt sorgt für klare Sicht. Vor allem in Richtung Hamburg, der alten Heimat mit „ihrer beschaulichen, für ihn jetzt provinziellen Größe“. Sie genügte dem Helden nicht als natürlicher Lebensraum, und so stößt Tristan, dem seine Eltern einen einwandfrei in den Bereich des Gestelzten gehörenden Namen gaben, zur Liga der armen, aber umso erfindungsreicheren Schlucker. Er will einen Roman schreiben.
Es gibt nicht wenige autobiografische Motive in „Otis“: Auch Distelmeyer, Jahrgang 1967, zog es einst aus Hamburg nach Berlin. Als Neu-Romancier schreibt er nun über einen anderen Neu-Romancier und Großstadtflaneur: Tristan soll sich um seine Nichte kümmern, die eine Wohnung sucht. Er trifft Freunde und Frauen, jammert über die stockende literarische Produktion und bereitet sich auf den Abschied Oles vor, der mit seiner Familie auswandern will. Am Abend findet die große Abschiedsfeier statt, und man ist als Leser zu diesem Zeitpunkt schon ganz schön herumgekommen: Atemlos ging es von Prenzlauer Berg nach Kreuzberg, im selbstbesoffenen Großstadtkosmos also quasi einmal um die ganze Welt.
Über Tristan weiß der Erzähler ganz schön viel: So erfahren wir reichlich Einzelheiten über seine Amouren. Vom Erzähler selbst erfahren wir auch sehr viel. Zum Beispiel, was er über 9/11 oder die deutsche Erinnerungskultur, über Helmut Kohl und über Berliner Wohnquartiere denkt.
Der im Jahr 2012 angesiedelte Roman „Otis“ soll sehr offensichtlich ein Sittenbild der Gegenwart sein, und zu dieser Gegenwart gehören anscheinend auch recht verquast daherredende Szenemenschen wie Musikerfreund Ole. Ist es Ironie, wenn Distelmeyer dem Spex-Geschwätz breiten Raum gibt? Und warum doziert der Erzähler unentwegt? Amüsant ist der Roman oft, aber man nimmt ihm die Komik nicht immer ab: Steckt hinter dem Erzähler nicht doch ein bisweilen allzu schlauer Autor? Leider hat der bei diesem verflixt raffinierten Spiel mit den Meta-Ebenen ein fragwürdiges Blatt in der Hand, wenn der Leser nicht mehr unterscheiden kann, wer hier gerade spricht.
Der Erzähler referiert die griechischen Mythen, er schildert, wie Tristan Sportfernsehen schaut (Dart!), und all das hat natürlich nie die poetische Qualität eines Blumfeld-Songtexts, sondern verrät eher den Debütanten, dem auf der bedeutend längeren Wegstrecke eines Romans das Gefühl für sprachliche Prägnanz oft verloren gegangen ist. Distelmeyer erzählt im streng souveränen Ton des Allwissenden und spachtelt Zeitkolorit in dicken Schichten auf seine Erzählleinwand, als schreibe er ein Buch, das noch in vielen Generationen als Zeitpanorama eines dann fernen Berlins durchgehen soll.
Nun wäre die Frage zu stellen, wer im Hier und Heute eine literarische Beschreibung der Sitten und Gebräuche der früher mal „Berliner Republik“ genannten Gesellschaft benötigt – reicht es nicht, die Sonntagszeitungen oder das Feuilleton zu lesen? Vielleicht. Allerdings will man Distelmeyer die Wahl seines Sujets nicht vorhalten. Vor allem, weil neben platten Berlin-Klischees („Im Westen war die Zeit stehegeblieben“) auch das Talent für Kurzprosa aufscheint. Das Defilee der Berlinbürger – Fotografen, Künstler, Mediziner, Alltagsartisten am Rande der Zahlungsunfähigkeit – ist eine pointierte Parade mit Wiedererkennungswert.
Hier kann jeder sein, wer er will
Wenn Distelmeyer erfreut bei Theaterbesuchern und den Party-People die Lust am Auftritt, den Selbstgenuss bezüglich des äußeren Erscheinungsbilds bemerkt, dann ist das auch ein Schwelgen in der Herrlichkeit der imaginären Ich-Entwürfe: Hier kann jeder sein, wer er will. Und indem Distelmeyers Erzähler kartografisch jede Straße und U-Bahn-Station nennt, die er passiert, outet er sich als Berlineroberer mit dem Euphorie-Überschuss des Neuankömmlings. Das mit wenigen Strichen gezeichnete Porträt eines alleinerziehenden deutschtürkischen Busfahrers steht derweil so unvermittelt im Raum wie die spätere Verhaftung von Tristans Onkel, einem kriminellen Geschäftsmann. Als hätte der Roman dringend seinen Hoeneß-Moment gebraucht. Der Cameo-Auftritt einer Verlegerfigur, die stark an den Suhrkamp-beschädigten Hans Barlach erinnert, ist dagegen ein apartes Gimmick – wie manche andere Anspielung auch.
So stellt man, auch im Hinblick auf die überraschende Schlusspointe, zwei Dinge fest. Zum einen hat der Roman insgesamt den Charakter des Skizzenhaften und Unfertigen. Zum anderen ist die Frage, ob Songschreiber unter die Romanautoren gehen sollten, immer noch nicht endgültig geklärt. Regener, Cave, Spilker – jetzt Distelmeyers Tanz um die Frauen in Romanform: Ehrgeiz ist stets vorhanden. Aber Meisterschaft lässt sich selten eins zu eins übertragen.
Distelmeyer liest am 8.2. im Uebel & Gefährlich